Weiter geht’s mit Jojakim. Wie schon letzte Woche erwähnt, stammt der Titel von Lutz. Kurzes Update zum neuen Buch: Die Rohfassung des Manuskripts wurde nach 15 Tagen (inklusive ein Tag Pause) und 65613 Wörtern gestern beendet.

Zacharias zeigte Jojakim die Waffe. Immer wieder hielt er sie ihm an die Schläfe, wenn er zu viel getrunken hatte. Dabei zitterten seine Hände so stark, dass der Lauf der Waffe auf Jojakims Kopf hin und her sprang. Susanna hielt stehts den Atem an und beobachtete das Schauspiel fassungslos. Jojakims Herz hämmerte und Tränen liefen ihm die Wangen herunter, doch er wollte sich seinem Vater nicht widersetzen, schwelte doch irgendwo in ihm drinnen die Hoffnung, dieser täte das alles, um auf irgendeine kuriose Weise seine Liebe zu zeigen.
Jojakim weinte jetzt immer öfter, stets lautlos. Am meisten schmerzte es ihn, wenn sein Vater seine Kunstwerke – Bilder, die er in der Vorschule gemalt hatte, oder kleine Modelle, die er aus Streichhölzern gebastelt hatte – zerstörte, oder – was noch schlimmer war – gar nicht beachtete.
„Mach was Vernünftiges, mit dem du Geld verdienen kannst!“, sagte er immer.
„Aber lass doch den Jungen noch Kind sein“, entgegnete die Mutter dann.
„Wie soll er denn für dich sorgen, wenn du mal alt und krank bist, und er sein gesamtes Leben mit Kindsein verbracht hat?“, blaffte Zacharias und dann fing es wieder an, das Schreien und Zischen und Weinen.
Noch schlimmer wurde es nur, als selbst die Streitereien zwischen den Eltern einer gleichgültigen Kälte gewichen waren. Jetzt weinte jeder im Stillen für sich und Mutter zischte im Stillen für sich und der Vater schrie für sich und sie lebten jeder für sich und Jojakim wurde Angst und Bange, er könne sich irgendwann einfach auflösen und seine Eltern bekämen es nicht mit und so lernte er die Straße kennen.
Dort schrien alle laut durcheinander und die Autofahrer hupten, wenn ihnen jemand die Vorfahrt nahm. Hier schien die Welt noch in Ordnung, was sich dadurch zeigte, dass sie im Chaos versank und die Menschen dies wahrnahmen.
Jojakim lernte Thomas kennen, der ihm beibrachte, wie man Äpfel vom Krämer stahl und der ihm zeigte, wie man rauchte und trank. Als Susanna das erste Mal roch, dass ihr Sohn Alkohol getrunken hatte, strafte sie ihn mit einer Woche Hausarrest. Beim zweiten Mal waren es nur noch drei Tage. Von da an nahm sie keine Notiz mehr von dem, was Jojakim tat, was er trank, was er rauchte.
Jojakim vermutete, dass das daran lag, dass er immer raffinierter vorging, was das Verbergen seines Alkoholkonsums anging, doch nach einiger Zeit merkte er, dass es seiner Mutter auch egal war, wenn er mit einer Fahne nach Hause kam. Dabei war er doch gerade einmal acht Jahre alt.
Jojakim zog mit Thomas jetzt regelmäßig um die Häuser, manchmal auch Tage lang. Am liebsten lief er von zuhause fort, nachdem ihm sein Vater mal wieder den alten Sechsschüsser an die Stirn gehalten hatte. Seine Mutter hatte nur weggesehen. Und er hatte es ertragen.
Die Hände seines Vaters zitterten jetzt immer, unabhängig davon, ob er betrunken war oder nicht. Und wenn sie die schwere Waffe hielten, hatte Zacharias allem Anschein nach Mühe, sie überhaupt hoch zu heben und ruhig zu halten. Ganz so, als wollte die Waffe, dass sich dank der zittrigen Hand ein Schuss löste; als sehnte sie es herbei. Sie musste sich noch einige Jahre gedulden.
Bei einem ihrer Streifzüge trafen die beiden Jungen auf Micha, einen alten Rabbi. Zumindest behauptete er das von sich, doch Jojakim hatte da so seine Zweifel. Soweit er wusste, waren Rabbiner gut gekleidete Männer, die die Thora lehrten. Micha hingegen sah aus, wie ein alter versoffener Landstreicher. Er sah so aus, wie Jojakim aussehen würde, folgte er weiterhin dem eingeschlagenen Pfad.
„Ich kenne deinen Vater und ich habe auch dessen Vater gekannt“, sagte Micha.
„Was heißt, du hast meinen Großvater gekannt. Er lebt doch noch. Wie kannst du von den Lebenden in der Vergangenheitsform sprechen?“, fragte Jojakim den Rabbi.
„Bist du dir da sicher?“, entgegnete dieser nur. Ansonsten schwieg er.
Jojakim dachte über das nach, was der Alte gesagt hatte, und als er wieder zu Hause war, fragte er zögernd seinen Vater: „Lebt dein Papa noch?“
Zacharias war gerade damit beschäftigt gewesen, seine Schuhe zu polieren. Er hielt mitten in der Bewegung inne. Dann legte er die Schuhcreme zur Seite und sah seinen Sohn an.
„Wie kommst du auf diese Frage?“
Jojakim überlegte einen Moment, ob er von Micha dem verrückten Rabbi erzählen sollte. Er entschied sich dagegen. Schließlich sagte er: „Ein Freund von mir hat gemeint, Opa sei gar nicht dein Vater.“
„So, wer sagt denn so einen Unsinn?“
„Ein Freund.“
Zacharias nahm die Schuhcreme wieder zur Hand und polierte weiter an seinen Schuhen. Er sah seinem Sohn nicht in die Augen und Jojakim meinte, eine Träne in den Augen seines Vaters zu sehen.
„Du musst nur wissen, dass mein Revolver nicht deinem Großvater Aron gehört hat.“
Bei dieser knappen Antwort ließ Zacharias es beruhen. Jojakim wusste nicht so recht, was er damit anfangen sollte. Er beschloss, es morgen noch einmal beim Rabbi zu probieren. Und sollte dieser auch nicht mit weiteren Informationen herausrücken, würde er in einem passenden Moment noch einmal seinen Vater fragen.
Doch weder der Rabbi, noch sein Vater machten den Mund auf und so vergaß Jojakim fast, dass er seinen Vater hatte fragen wollen, wieso jemand behauptete, Aron sei nicht sein Großvater. Wäre Jojakim auf die Idee gekommen, seinen Großvater selbst du fragen, würde Susanna möglicherweise noch leben. Doch Jojakim hatte an diese Möglichkeit nicht gedacht. Stattdessen fragte er ein letztes Mal seinen Vater.
Zacharias saß mit hängenden Schultern an seinem Schreibtisch und starrte mit trübem Blick ins Leere. Susanna bügelte gerade die Wäsche. Jojakim saß auf dem Sessel und las in einem Buch. So beiläufig wie möglich fragte er: „Wem hat die Pistole gehört, wenn nicht meinem Großvater Aron?“
Zacharias wurde mit einem Male kreidebleich. Langsam zog er die Schublade auf und griff nach der alten schweren Waffe. Er hielt sie hoch und betrachtete sie.
„Diese Waffe gehörte meinem Vater. Und weißt du, was er damit gemach hat?“, fragte er fast flüsternd. „Soll ich dir sagen, was er mit diesem Ding gemacht hat?“
Jojakim spürte, wie sich die Stimmung seines Vaters wandelte. Er hatte auf einmal Angst, etwas schreckliches könnte geschehen, doch der Wunsch, zu erfahren, was es mit der Waffe auf sich hatte, war zu groß.
„Sag es mir“, zischte er.
„Ich soll es dir sagen? Wie wäre es, wenn ich es dir zeige?“, fragte sein Vater und stand auf. Er ging langsam auf Jojakim zu. Susanna, die immer noch am Bügelbrett stand, legte das Bügeleisen nieder. Sie hielt die Luft an, wie überhaupt die ganze Welt die Luft anzuhalten schien, als merke sie, dass sich alle an einem Scheideweg befänden.
„Lass das“, brachte Susanna schließlich heraus.
„Sag du mir nicht, was ich zu machen habe, Weib!“, herrschte Zacharias sie an. „Er hat danach gefragt, jetzt zeige ich es ihm!“
Jojakim bekam es jetzt richtig mit der Angst zu tun. Er war verwundert, als er sah, wie Tränen über die Wangen seines Vaters liefen.
„Ich zeige dir jetzt, was mein Vater Moses mit mir und der Waffe gemacht hat. Zieh deine Hose aus, dann zeige ich es dir!“
„Nein!“, schrie Susanna und schlug Zacharias mit dem heißen Bügeleisen gegen den Arm. Zacharias schrie auf, ließ die Waffe jedoch nicht fallen. „Nein!“, schrie Susanna immer noch und holte zu einem weiteren Schlag aus, doch Zacharias drückte ab und hinderte sie so daran, einen weiteren Treffer zu landen; hinderte sie am Weiterbügeln, am Weiterleben.
Susanna starb, weil sie ihren Sohn, den sie immer geliebt hatte, vor einem wahnsinnig gewordenen Vater schützen wollte. Sie starb an einem Samstag, an dem sie als Jüdin eigentlich nicht hätte Bügeln sollen. Rabbi Micha hätte das gewusst. Er hätte gesagt, dass die Gottlosen irgendwann gestraft werden, wie schon damals, zu Zeiten des alten Testaments. Er hätte gesagt, dass Zacharias ein Werkzeug Gottes wäre. Und damit hätte er Jojakim überzeugt, denn obwohl er seine Mutter geliebt hatte, fühlte er mit seinem Vater. Er hatte den Schmerz gesehen, der aus den Augen seines Vaters gesprochen hatte. Und er hatte seinen Vater doch ebenfalls geliebt.
Jetzt flog die Tür auf und brachte Jojakim wieder zurück in die Gegenwart. Zacharias stand stumm im Raum, starr wie Lots Frau, und weinte. Er weinte still, wie man es in ihrer Wohnung seit zu langer Zeit getan hatte.
Der Nachbar kam hereingestürmt. Er packte Jojakim am Arm und riss ihn aus der Wohnung. Nach draußen, weg vom Vater, weg von der Mutter. Jojakim lernte das Kinderheim von innen kennen, vergaß Thomas und Micha und weinte jeden Abend. Jetzt könnte er laut weinen, doch er konnte es nicht. Er fragte sich immer wieder, was sein Vater ihm hatte zeigen wollen und wieso er dafür die Hose hatte ausziehen sollen. Er traute sich nicht, diese Frage laut auszusprechen, denn obwohl er Freunde fand und jede Woche ein Gespräch mit der Heimleitung hatte, wusste er doch, dass der einzige Mensch, der ihm diese Frage beantworten konnte, unerreichbar im Gefängnis saß und die Tage zählte, die er noch zu leben hatte.
Und so kam es, dass Jojakim, der die nächsten zehn Jahre im Heim verbringen sollte, diese Frage in seinem Herzen bewahrte und diese Frage zum Nährboden für einen Plan wurde, den Jojakim wieder und wieder verwarf und dann in immer neuen Variationen schmiedete: Er würde seinen Vater erschießen. Einzig die Gefängnismauern hinderten ihn an der Umsetzung seines Vorhabens, und die Zeit tat ihr Bestes, ihn seinen Plan vergessen zu lassen. Doch selbst die Zeit arbeitet unzureichend, und so kam es, dass Jojakim sich an sein Vorhaben erinnerte, als er seinen Vater zehn Jahre später auf dem Markt sah und alles kam wieder in ihm hoch.