Es folgt das Finale. Während ich die Geschichte geschrieben habe, habe ich mich dazu entschlossen, alles gut ausgehen zu lassen. Viel Spaß beim Lesen. (Buchupdate: Von den knapp 66000 Wörtern sind nach einer ersten Überarbeitung noch knapp 55000 übrig geblieben. Jetzt warte ich gespannt auf die Rückmeldung meiner Testleser.)

Zacharias sah Gott sei Dank in eine andere Richtung und so konnte Jojakim in unbemerkt beobachten. Zacharias ging schnellen Schrittes die Straße entlang und Jojakim folgte ihm. Es schien, als gingen sie ziellos durch die Stadt, doch sie näherten sich unwillkürlich dem Stadtrand. Jojakim war schon früher einmal mit Thomas dort draußen gewesen. Er wusste, was kommen würde, wäre nichts weiter als eine staubige Wüste. Was um alles in der Welt wollte sein Vater dort? Jojakim wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Zacharias sich plötzlich umdreht, ihn sah und ungläubig fragte: „Jojakim, bist du das?“
Jetzt zählte es. Jojakim spürte alle Reaktionen seines Körpers auf einmal. Sein Herz raste, Schweiß bildete sich auf seinen Händen, in seinen Ohren dröhnte ein lautes Summen, ihm wurde schwarz vor Augen. Es kostete ihn einiges an Kraft, sich nicht hinknien zu müssen, standhaft zu wirken. Er räusperte sich, ehe er mit seiner rechten Hand nach hinten in den Hosenbund griff und nach der Waffe tastete. Sie lastete schwer in seiner Hand, wie damals die Waffe seines Vaters.
„Ich bin gekommen, um das zu tun, was du früher nie geschafft hast.“
Er zog die Waffe und richtete sie auf seinen Vater.
„Ich werde dich erschießen. Hier auf dieser Straße. Ich werde das tun, was du hättest tun sollen.“
„Jojakim, nein!“, schrie sein Vater, doch Jojakim wollte nichts hören. Er wollte nur noch das loswerden, was ihm seit seiner Kindheit auf der Seele brannte, und dann wollte er endlich einen Schlussstrich ziehen.
„Wieso hast du mich und Mama damals so gequält, anstatt einfach dich selbst zu töten? Du mit deiner Sauferei! Jeden Abend warst du blau und deine Augen sagten ‚Ich will nicht mehr‘. Wieso hast du es denn dann nicht einfach selbst getan? Stattdessen musstest du mich quälen!“
„Jojakim, ich bitte dich. Lass uns über alles reden. Ich wollte das doch alles nicht!“
Jojakim wurde übel. Er spuckte auf den dreckigen Straßenboden, die Waffe immer noch auf seinen Vater gerichtet.
„Halt dein dummes Maul!“, schrie Jojakim und Tränen liefen ihm übers Gesicht.
„Ich…ich wollte das nicht“, schluchzte Zacharias und sank auf die Knie. So hatte Jojakim sich das Treffen vorgestellt. Jetzt würde er es beenden. Er würde jetzt…
„Wir hatten nie etwas zu feiern.“
Jojakim verstand zunächst nicht, was sein Vater meinte. Doch dann erinnerte er sich an die Vaterschaft des Einen und die Erbschaft des Anderen und an all die anderen fadenscheinigen Gründe deretwegen sein Vater betrunken nach Hause gekommen war.
„Ich wollte nie so sein, wie mein Vater, glaub mir. Er war grausam. Die Waffe war von ihm.“
Jojakim hatte Mühe, den Satzfragmenten seines Vaters einen Sinn zu entnehmen. Je länger er zuhörte, desto mehr wurde ihm klar, dass hier auch er sprechen könnte. Die Waffe des grausamen Vaters. War es möglich, dass er die gleichen Fehler beging, wie sein Vater? Aber er war doch im Recht. Ihm war Unrecht getan worden. Er war im Recht!
„Er hat immer gesagt, er brauche sie, um sich gegen die Nazis zu schützen. Bloß gab es bei uns gar keine Nazis. Es gab nur ihn, Mutter, meine Schwester und unseren Nachbarn. Der war ein kleiner netter Palästinenser und eines Morgens lag er mit einem Loch im Kopf auf dem Hof. Mein Vater zwang mich, ihn hinterm Haus zu vergraben. Er zielte mit der Waffe auf mich, während ich das Grab aushob.“
In Jojakims Kopf blitzten Bilder auf. Sein Vater, wie er ihm die Waffe an die Stirn hält. Seine Mutter, wie sie weint. Seine Mutter, wie sie das Bügeleisen nach ihrem Mann wirft.
„Er hat mich gezwungen, seinen Mord zu vertuschen.“
Jojakim sah, wie schwer es seinem Vater fiel, all das zu erzählen. Er sah, wie es auch ihm Schmerzen bereitete, all den Schrecken erneut zu durchleben.
„Jeden Abend hat er mich geschlagen, hat mir den Lauf der Waffe an die Stirn gehalten. Einmal hat er ihn mir in den Arsch geschoben!“
Zacharias weinte jetzt hemmungslos und Jojakim kämpfte weiter gegen das Gewicht der Waffe an.
„Ich habe ihn gehasst und eines Tages habe ich ihn mit seinem eigenen Revolver erschossen!“
Jojakim erinnerte sich an Micha, der behauptet hatte, Aron sei nicht sein Großvater.
„Ich rannte weg, verlor mein halbes Leben. Und jeden Tag schwor ich mir, nie so zu werden wie mein Vater. Jeden Tag diese Qualen.“
Jojakim senkte die Waffe. Sein Vater sah ihn schon lange nicht mehr an. Er redete vielmehr zu sich selbst.
„Und dann traf ich deine Mutter. Sie hat mir das Leben gerettet. Und Aron, der mich zu sich aufnahm, mich wie seinen eigenen Sohn behandelte.“
Zacharias hatte aufgehört zu weinen. Er starrte nur weiter ins Leere und beichtete sein Leben.
„Wir waren glücklich. Ich war glücklich. Das erste Mal in meinem Leben war alles gut. Und dann kamst du. Du warst ein Engel. Alles war so gut. Wir hatten dich. Wir hatten uns. Und ich hatte Arbeit. Alles war so gut, bis…“
Zacharias machte eine Pause. Jojakim hob den Revolver wieder an. Vor lauter Anspannung tat ihm der Arm weh. „Wieso erschießt du ihn denn nicht gleich?“, fragte er sich. Doch er kannte die Antwort. Er musste mehr über seinen Vater erfahren.
„Wir stellten Konservendosen her. Das haben sie uns immer gesagt. Und wir Trottel haben es geglaubt. Wir haben jeden Tag die Maschinen eingeschaltet und gewartet und das neue Material angeschafft und uns nie gefragt, was wir da eigentlich taten. Wir stellten Konservendosen her. Wenn ich nicht lache.“ Zacharias lachte verächtlich. Dann sprach er weiter. „Eines Tages belauscht Ruben ein Gespräch der Chefs. Er faselt irgendwas von Kriegsgeräten, die wir angeblich bauen. Ich lache ihn aus, doch der Zweifel ist gesät und so brechen wir in das Büro des Chefs ein und finden Pläne von Bomben. Bomben, die Menschen töten. Und uns wird klar, dass wir für die Tode unzähliger Menschen verantwortlich sind und wir können mit dieser Schuld nicht leben und so betrinken wir uns. Und jeden Morgen, den ich aufgewacht bin, sehe ich die verkohlten Leichen der Bombenopfer vor mir und dann sehe ich deine Mutter und dich und alles ist wieder gut und auf der Arbeit rieche ich verbranntes Fleisch und höre dumpfe Explosionen und laute Schreie und ich halte es nicht aus und trinke wieder, bis ich nichts mehr wahrnehme.“
Zacharias drehte seinen Kopf und sah Jojakim jetzt wieder in die Augen. Dem war die Waffe nun doch zu schwer geworden und so hatte er die Hand gesenkt.
„Es tut mir alles so leid!“
Mehr hörte Jojakim nicht mehr. Er ließ die Waffe fallen und drehte sich um. Er rannte so schnell er konnte. Fort von seinem Vater, fort von der Stadt. Er rannte, bis ihm die Lunge brannte und er sich vor Schmerzen beinahe übergeben musste. Als er endlich stehen blieb, hatte er die Stadt weit hinter sich gelassen. Hier draußen war nicht mehr außer Fels und Sand.
Und ein Maulbeerbaum.
Jojakim ging zu dem Baum und setzte sich in den Schatten. Sein Herz hämmerte immer noch, doch dieser Ort, dieser kleine schattige Fleck, brachten ihn auf eine seltsame Art zur Ruhe.
„Es war gut, die Waffe zu senken.“
Jojakim dachte über diesen Satz nach. Er weinte, da er versagt hatte. Er hätte seinen Vater gleich erschießen sollen. Er hätte sich nicht von ihm zuschwallen lassen dürfen.
„Es ist immer besser, einander zu vergeben.“
Jojakim war sich nicht sicher, ob er seinem Vater wirklich vergeben hatte, oder ob ihm am Ende einfach der Mut gefehlt hatte. Er hätte doch einfach nur…
„Rache ist niemals gerecht. Ebenso wie die Gnade.“
…abdrücken sollen. Eine kleine Bewegung seines Zeigefingers hätte ausgereicht. Wieso hatte er es nicht tun können? Wieso?
„Weil du etwas in den Augen deines Vaters gesehen hast.“
Er hatte gesehen, dass sein Vater einst er gewesen war. Und er würde werden wie sein Vater. Beladen von der Schuld. Und es würde kein Entkommen geben. Selbst dann nicht, wenn er ein neues Leben anfing. Er würde nie ohne seine Vergangenheit leben können. Aber er würde auch nie in einer Zukunft leben müssen, in der er seinen Vater erschossen hatte. Alles, was er tun musste, war aufstehen und in dieses neue Leben gehen. Doch Jojakim war zu müde, und so beschloss er, dass er noch eine kurze Weile unter dem Maulbeerbaum sitzen bleiben würde. Sein neues Leben konnte nicht einen kurzen Moment warten.

Ende