Have a break, write a book

Monat: Januar 2023

Tankstellenüberfall nach „Save the cat“

Zur folgenden Geschichte führen zwei Wege:
1. Auf einem Schreibtreff gab es die Aufgabe, eine Geschichte über einen Tankstellenüberfall zu schreiben.
2. Ich wollte schon immer mal eine Geschichte nach Blake Sniders Modell „Save the cat“ schreiben. (Einfach mal googlen und nachlesen. Aber seien Sie gewarnt: Man wird Filme nie wieder so anschauen können wie vorher!)

Helena drückte ihre Zigarette in dem überfüllten Aschenbecher aus und sah auf die Uhr. Es war bereits kurz vor neun. Na toll. Somit hatte sie den letzten Bus in die Stadt verpasst. Und das alles nur, weil sie sich mal wieder von ihrer Nachbarin Oleksandra hatte breit schlagen lassen, auf die kleine Nasti aufzupassen. Jetzt blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als zu Fuß zur Tankstelle an der Bundesstraße zu gehen und ihre Einkäufe dort zu erledigen.
Obwohl es draußen noch sommerlich warm war, zog sie ihre Regenjacke an – eine andere besaß sie nicht – und ging zur Tür. Sie musste sich beeilen, durfte nicht zu spät nach Hause kommen, da sie morgen schon um halb zehn in der Stadt auf dem Amt sein musste. Helena lebte erst seit einem halben Jahr hier, hatte aber schnell gelernt, wie wichtig es die Deutschen mit der Pünktlichkeit nahmen.
Sie eilte die Hauptstraße entlang und ging schließlich den knappen Kilometer an der Bundesstraße entlang. Es wurde schon dunkel, als sie die Tankstelle erreichte.
Du solltest froh sein, dass es hier überhaupt eine Tankstelle gibt, dachte sie und trat durch die Schiebetür.
Drinnen war es kühl. Hinter dem Verkaufstresen stand eine junge Blondine in einem grellen pinkfarbenen Pullover und stierte auf ihr Smartphone. Neben dem Kaffeeautomaten lehnte ein dicker Mann an einem Stehtisch. Wahrscheinlich gehörte ihm der Laster, den Helena draußen gesehen hatte.
Ihr war nicht recht wohl so spät am Abend allein unter den Deutschen. Also suchte sie hastig ihre Einkäufe zusammen. Gott sei Dank, konnte man aus ihr unerfindlichen Gründen an deutschen Tankstellen Nudeln kaufen.
Helena wollte sich gerade zum Bezahlen an die Kasse stellen, als ihr Smartphone klingelte. Hastig hob sie ab. Bloß nicht auffallen.
„Hallo“, flüsterte sie.
„Hallo Helena“, flötete Sascha am anderen Ende.
Sascha wohnte ebenfalls hier im Ort – zusammen mit vierzehn weiteren ukrainischen Familien. Helena mochte Sascha. Er erinnerte sie an ihren Bruder.
Und Sascha mochte Helena. Genauer gesagt, war er regelrecht vernarrt in sie.
„Was hast du an?“, fragte er.
Helena verdrehte die Augen.
„Ich bin gerade am Einkaufen“, gab sie zur Antwort.
„Das trifft sich ja gut. Ich hatte schon befürchtet, du sitzt im Pyjama vor dem Fernseher. Komm doch noch vorbei. Dann gucken wir uns gemeinsam einen Film an.“
Helena lachte leise. Sofort warf sie einen Blick zu den beiden Deutschen. Hatten sie sie angestarrt? Wohl kaum. Der Mann rührte weiterhin gedankenverloren in seinem Kaffee und die Verkäuferin scrollte nach wie vor durch ihr Smartphone.
„Sascha, ich kann heute Abend nicht zu dir kommen. Ich muss morgen früh raus.“
„Ach komm schon. Nur für einen Film. Wir sehen uns war kurzes an.“
„Ich kann nicht. Ich muss morgen …“
„Ja, du musst morgen früh raus. Das hast du gerade schon gesagt.“
„Ich muss morgen aufs Amt. Und du weißt, dass die Deutschen pünktlich sind.“
„Aber du kannst doch auch müde aufs Amt gehen.“
Helena lachte.
„Das ist doch Wahnsinn, Sascha. Ich muss Formulare ausfüllen und Geld beantragen und lange warten. Ich muss schlafen.“
„Wie wäre es, wenn du noch einen Wein kaufst. Dann schläfst du auch gut.“
„Ich glaube nicht, dass ich noch so viel Geld habe“, antwortete Helena und wusste, dass sie sich geschlagen gegeben hatte.
„Dann lass doch was anderes da.“
„Ich überlege es mir, Sascha“, sagte sie und legte auf.
Sie ging zum Getränkeregal, an dem eine Neonröhre flackerte, und nahm eine Flasche für drei Euro. Wenn ihr Geld nicht reichte, würde sie einfach die Nudeln da lassen.
Helena trug ihre Einkäufe zur Kasse und lächelte die Verkäuferin an. Die lächelte zurück und scannte die einzelnen Artikel.
Gerade als die Verkäuferin „18,50 €“ sagte, kam ein maskierter Mann in grünen Shorts zur Tür hereingepoltert und schwenkte eine Waffe durch den Raum.
„Das ist ein Überfall!“, brüllte er.
Helena blieb das Herz stehen.
Verdammt, dachte sie, wenn ich nur nicht mehr mit Sascha telefoniert hätte, dann wäre ich schon längst wieder auf dem Weg nach Hause.
„Her mit dem Geld“, schrie der Mann mit der Maske. „Du da, geh da rüber“, fuhr er den dicken Mann an, dem sein Kaffee aus der Hand gefallen war.
„Scheiße“, sagte der Dicke.
„Was ist, kapierst du es nicht?“, blaffte der Maskierte.
„Ich muss ganz dringend scheißen“, antwortete der Mann. „Habe mir den Magen verstimmt. Und mittlerweile zeigt der Kaffee seine Wirkung.“
„Ich glaub, du tickst nicht mehr richtig, das hier ist ein verfluchter Überfall!“, schrie der Mann.
„Ich weiß. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich mich in den nächsten paar Sekunden einscheißen werde.“
„Gib mir dein Handy. Und du, rück den Schlüssel raus!“
Der Räuber deutete mit der Pistole auf die Verkäuferin, die wie ferngesteuert unter ihren Tresen griff und einen Schlüssel herüberwarf.
„Den Schlüssel nehme ich“, sagte der Maskierte. „Und du rückst gefälligst das Geld raus!“
Der Maskierte schob den Dicken nach hinten und schloss die braune Tür mit dem Toilettenzeichen auf.
Helena stand immer noch wie erstarrt an der Kasse, den Geldbeutel in ihrer Hand.
„Wo bleibt mein Geld?“, blaffte der Räuber, der mittlerweile wieder nach vorne gekommen war.
„Das ist alles, was in der Kasse ist“, sagte die junge Frau und schob einen Stapel Fünfziger und Zwanziger über den Tresen. „Oder soll ich Ihnen auch noch das Klimpergeld geben?“
„Gib her!“, fauchte der Räuber und grapschte nach dem Geld.
Ich muss Sascha anrufen, sobald der hier raus ist – und die Polizei, dachte Helena.
„Na also“, sagte der Maskierte und stopfte sich die Scheine in die Jackentasche. Den Toilettenschlüssel legte er vor Helena.
„Schließ dem Fettsack wieder auf, sobald er fertig ist.“
Helena nickte nur.
Der Mann drehte sich um und ging Richtung Ausgang. Helena zückte schon ihr Smartphone, als sie merkte, dass etwas nicht stimmte.
„Wieso geht die scheiß Tür nicht auf?“, fauchte der Räuber.
Er drehte sich um und starrte Helena an, als sei sie dafür verantwortlich, dass die Tür sich nicht öffnete.
„Wieso geht die verfluchte Tür nicht auf?“, wiederholte er.
Helena hatte eine Ahnung, was die Ursache sein könnte. Vermutlich hatte die junge Verkäuferin nicht nur den Toilettenschlüssel unter ihrem Tresen gesucht, sondern auch noch einen Alarm ausgelöst.
„Ich … Ich habe die Tür versperrt“, sagte die junge Frau.
„Du hast was?“
„Ich habe die Tür verriegelt.“
„Dann mach sie wieder auf!“, befahl der Räuber.
„Das geht nicht“, flüsterte die Verkäuferin.
„Wieso?“
Helena spürte die Katastrophe, die sich gerade anbahnte.
„Sicherheitsvorkehrung.“
„Was soll das heißen?“
„Das ist eine Sicherheitsvorkehrung. Wenn man die Tür verriegelt und gleichzeitig den Notrufknopf drückt, dann bleibt sie zu, bis sie vom Sicherheitsdienst wieder freigeschaltet wird.“
„Du hast den Alarm ausgelöst?“
Die Verkäuferin nickte.
„Verdammt, verdammt, verdammt!“, schrie der Räuber und hämmerte mit der Faust gegen die Tür.
„Mach sofort diese verfickte scheiß Tür auf, hast du verstanden!“
Er hob drohend die Waffe und zielte auf die junge Verkäuferin.
„Ich kann nicht“, winselte die nur.
Helena hatte in Kiew die ersten Bombeneinschläge miterlebt, ehe sie nach Deutschland geflohen war. Manchmal schreckte sie nachts noch hoch und glaubte, die Explosionen erneut gehört zu haben – so sehr hatte sich deren Hall in Helenas Gedächtnis geprägt.
Der Schuss, der jetzt die Luft zerschnitt, war ähnlich laut.
Entsetzt sah Helena, wie die junge Frau an die Wand zurückgeworfen wurde. Ihr Gesicht war nicht mehr da und der pinke Pullover, der noch vor einer halben Stunde so hell geleuchtet hatte, war blutverschmiert.
„Scheiße!“, hörte Helena den Maskierten fluchen.
Langsam drehte sie sich in seine Richtung.
Der Arm des Mannes sank nach unten und mit ihm die Waffe.
„Scheiße, scheiße, scheiße“, wiederholte der Mann.
Mit der freien Hand, die eben noch das Geld einkassiert hatte, griff er sich an den Kopf und zog an der Maske.
„Wieso?“, fragte der Mann, doch niemand antwortete.
Helena löste sich langsam aus ihrer Starre und ging hinter den Tresen. Vielleicht hatte die Verkäuferin dort selbst eine Waffe. Zumindest hatten die Leute auf Netflix immer eine Waffe unter dem Verkaufstisch. Dann könnte Helena den Räuber erschießen.
Doch da war keine Waffe. Nur der leblose Körper der Verkäuferin. „Sally“ stand auf ihrem Namensschild.
„Lebt sie noch?“, fragte der jetzt unmaskierte Räuber.
Er hatte dunkle Locken und sah eigentlich recht harmlos aus.
Helena schüttelte den Kopf.
„Niet. Ist tot“, antwortete sie in gebrochenem Deutsch.
„Verflucht!“
Der Mann fing an zu weinen und sank langsam auf den Boden.
„Ich wollte doch nicht schießen“, schluchzte er.
Helena sah hinüber zu dem Häufchen Elend, das da heulend mit dem Rücken an der Schiebetür lehnte. Dann sah sie hinunter auf die Leiche der jungen Frau.
„Doch Sally ist tot“, sagte sie.
„Oh Gott, dafür lande ich im Gefängnis. Dabei habe ich das nur für meinen Bruder getan“, sagte der Mann und weinte noch bitterlicher.
„Dafür komme ich direkt in die Hölle“, schluchzte der Räuber.
Helena schüttelte den Kopf. Sie glaubte nicht an so einen Quatsch wie die Hölle. Die Hölle war in Kiew oder im Donbass. Und der Mann war in Deutschland. Vermutlich war es im deutschen Gefängnis nicht halb so schlimm wie im Krieg.
„Am besten ist es, wenn ich mir hier uns jetzt eine Kugel verpasse. Dann ist der Weg in die Hölle nicht so weit“, flüsterte der Mann.
Helena verstand nicht jedes Wort, doch sie verstand, dass der Mann sich was antun wollte.
„Sagen Sie denen bitte, dass es ein Versehen war. Und sagen Sie meinem Bruder, dass er im Himmel ein gutes Wort für mich einlegen soll, sobald er alles hinter sich hat.“
Der Räuber wischte sich mit der Mütze die Tränen aus dem Gesicht und hob die Waffe an den Kopf.
Helena starrte wie versteinert auf den Mann, der da am Boden hockte und jetzt mit zitternden Fingern seine Waffe an die Schläfe presste. Das flackernde Licht des Getränkeregals warf in unregelmäßigen Abständen seltsame Schatten auf das Gesicht des Mannes.
„Tun Sie nicht“, sagte Helena und sah dem Mann in die Augen.
Der erwiderte ihren Blick. Die Waffe zitterte jetzt noch stärker und rutschte schließlich ganz ab.
„Ich kann doch nicht weiterleben“, sagte der Mann.
plötzlich mischte sich noch ein anderer Lichtschein in die Szenerie. Helena bemerkte zwei Polizeifahrzeuge, die draußen auf dem Parkplatz anhielten.
„Was zum Teufel“, sagte der Mann und stand auf. Die Waffe hatte er jetzt wieder erhoben wie einer dieser schießwütigen Kerle aus den Actionfilmen, die Sascha sich immer ansah.
„Polizei“, sagte Helena nur.
„Verdammte Scheiße!“, fluchte der Mann.
Will er sich nicht mehr umbringen, fragte sich Helena.
„Ich schieße die über den Haufen!“, sagte der Mann.
Er nahm das Magazin aus der Waffe und entfernte eine Kugel.
„Die behalte ich für mich“, sagte er und schob das Magazin wieder in die Pistole.
Schießwütig wie Wolodymir, dachte Helena.
Und wie ihr kleiner Bruder gegen die Russen versagt hatte, würde auch dieser arme Mann nichts gegen die Polizei ausrichten können. Alles, was er erreichen würde, wäre noch schlimmeres Unheil.
Helena musste das verhindern. Sie hatte bereits einmal mit angesehen, wie die Gewalt einen Menschen verändert hatte. Ihr Bruder war einem Regelrechten Wahn verfallen, nachdem er die ersten russischen Soldaten erschossen hatte. Dieses Schicksal durfte diesem armen Würstchen nicht passieren.
„Was zum Henker geht denn hier ab?“, fragte eine Stimme hinter ihnen.
Helena zuckte zusammen und drehte sich um. Vor ihr stand ein dürrer Kerl in einem alten verschlissenen Blaumann. Der Junge hielt einen Schrubber in der einen und eine Schachtel Zigaretten in der anderen Hand.
„Tobias?“, fragte der Räuber verwundert.
„Herr Meier?“, fragte der Junge zurück.
„Was machst du denn hier?“
„Ich putze hier. War gerade eine rauchen. Haben Sie auch diesen Knall gehört?“
„Das war ich“, sagte der Räuber.
Er hatte die Waffe wieder gesenkt.
„Ich habe die arme Frau hinter der Kasse erschossen.“
Der Räuber fing wieder an zu weinen.
„Er überfallen“, sagte Helena.
Der junge Putzmann trat hinter den Verkaufstresen und blickte auf die Leiche der Frau, drehte sich jedoch sofort wieder um.
„Fuck!“, war alles, was er rausbrachte, ehe er sich in seinen leeren Putzeimer erbrach.
„Ich komme in die Hölle“, sagte der Räuber wieder. „Ich sollte mich lieber beeilen, oder?“
Er sah wieder nach draußen zu den Polizisten, die mittlerweile ihre Wagen verlassen hatten und sich der Tür näherten.
„Sag allen, dass es mir leid tut. Kannst du das für mich tun, Tobias?“, fragte der Räuber.
Erneut hob er die Pistole an seine Schläfe. Er sah den Putzmann flehend an.
„Sie nix umbringen“, sagte Helena. „Sie nicht so dumm wie Wolodymir!“
Der Räuber hielt in seiner Bewegung inne und starrte Helena an.
„Wer ist Wolodymir?“, fragte der vormals Maskierte.
„Wolodymir tot, weil er war dumm.“
Helena dachte an ihren Bruder, der jetzt tot in Kiew im Dreck lag.
„Reicht, dass Sally tot“, fügte sie hinzu.
Die beiden Männer sahen Helena an. Und der Räuber ließ tatsächlich seine Waffe sinken.
„Wer ist Wolodymir?“, wiederholte der Putzmann die Frage des Räubers.
„Bruder. Ist tot in Kiew.“
Helena ging auf den Räuber zu.
„Gib mir Waffe. Bitte.“
Und der Räuber ließ tatsächlich die Waffe sinken.
„Hölle ist im Krieg. Du nur gehst ins Gefängnis.“
Helena merkte, wie der Putzmann ebenfalls einen Schritt auf den Räuber zuging. Sie versuchte, nicht auf die Waffe zu starren, sondern sah dem Räuber nach wie vor ins Gesicht. Die Pistole wähnte sie am unteren Rand ihres Blickfeldes.
„Du musst leben“, sagte sie.
Jetzt war sie nur noch eine Schritt von ihrem Gegenüber entfernt. Ihre Finger zitterten. Sie spürte, wie ihr Herz pochte.
Ein lautes Klopfen an der Glastür ließ sie alle drei zusammenfahren. Helena sah aus den Augenwinkeln heraus, wie einer der Polizisten die Augen mit den Händen abschirmte, um durch die Scheibe zu starren. Ihr Blick war immer noch auf den Räuber fixiert, der jetzt wieder die Waffe hob.
Helena sprang nach vorne und fasste die Waffe mit beiden Händen. Der Überraschungseffekt zeigte seine Wirkung. Es gelang Helena, dem Räuber die Waffe aus der Hand zu reißen. Der taumelte rücklings gegen die Tür.
Helena warf die Waffe in den Putzeimer, wo sie im Erbrochenen des Putzmannes versank.
Der junge Mann im Blaumann erkannte die Situation ebenfalls und warf sich auf den Räuber. Der leistete keinen Widerstand. Er starrte nur wie versteinert auf das Flackern des Blaulichts.
„Wieso habt ihr nicht zugelassen, dass ich ihr in den Tod folge?“, fragte er tonlos.
„Weil Leben ist besser als tot sein“, sagte Helena.
Sie spürte, wie sie wieder anfing zu zittern.
Verflucht, ich brauche eine Zigarette, dachte sie und zog ihre Schachtel Pall Mall aus der Jackentasche.

Der Tag, an dem Oskar seine Frau erschoss – Kapitel 10 – Francis

Hier ist es nun: Das letzte Kapitel meiner kleinen Kriminalgeschichte. Viel Spaß damit.

Die Polizisten fanden meine sterblichen Überreste etwa zehn Minuten, nachdem mir Magnus mit Unterstützung der Schwerkraft den Garaus gemacht hatte. Für Kommissar Strobel stand sofort fest, dass ich mir mit meinem Selbstmord endlich meine Schuld eingestanden hatte, und dem Staat im Übrigen eine Menge Kosten für Gerichtsverhandlungen und den anschließenden Gefängnisaufenthalt erspart hatte.
Gott sei Dank gab es aber noch Francis Rickenbacker, der sich als ziemlich kluger Kopf entpuppte. Annabelles Tanzpartner war nämlich nicht nur irgendein Detektiv, sondern vermutlich der gefragteste in Berlin und London. Herr Rickenbacker hatte nämlich gleich in zwei Metropolen eine Wohnung und ein Büro.
Hauptkommissar Strobel hatte schon verkündet, dass man wohl die Ermittlungen beenden könnte, als Rickenbacker dazwischen grätschte.
„Nicht so schnell, Herr Kommissar“, sagte Rickenbacker, der im Bademantel nach draußen geeilt war. Er musste wohl noch geschlafen haben, bis ihn das ganze Geschnatter der Polizei geweckt hatte.
„Was wollen Sie denn? Und wer sind Sie?“, fragte Hauptkommissar Volltrottel.
„Mein Name ist Rickenbacker. Francis Rickenbacker. Ich bin Privatdetektiv und habe in dieser Funktion an der gestrigen Feier teilgenommen. Und leider habe ich es versäumt, zwei Morde zu verhindern. Die gehen wohl beide auf meine Kappe.“
„Zwei Morde?“, fragte der Kommissar. „Ich sehe vielmehr einen Mord und einen Suizid.“
„Mit Verlaub, Sie würden den Mörder wohl nicht einmal erkennen, wenn er mit einer Leuchtreklame vor Ihnen stünde.“
„Werden Sie mal nicht frech.“
„Weißt du denn, wer die beiden ermordet hat?“, fragte Henrietta, die nun ebenfalls nach draußen gekommen war. Es freute mich sehr, dass Sie über mein Ableben sehr entsetzt war – auch wenn ich mir davon jetzt nichts mehr kaufen konnte.
„Ja, Franzis, weißt du, wer es war?“, fragte Annabelle, die den Detektiv wie bereits gestern anhimmelte.
„Ich weiß wer es getan hat, warum und vor allem weiß ich, wie er es getan hat.“
„Sie geben vor, eine ganze Menge zu wissen. Wollen Sie uns vielleicht an Ihrem Wissen teilhaben lassen?“
„Gerne.“
Rickenbacker sah in die Runde. Soweit ich das von hier überblicken kann, war wirklich fast jeder nach draußen gekommen. Rickenbacker schien das zu gefallen. Er brauchte eine Bühne für seine Kunst. Die Kunst der Täterüberführung.
Annabelle strahlte ihn an.
„Wer war es, Franni?“
„Nicht so schnell, Liebes. Zunächst einmal möchte ich das Warum besprechen.“
Rickenbacker zog ein Foto aus der Tasche seines Bademantels. Es war eine Aufnahme dreier Soldaten. Tom, Magnus und Luca lächelten in die Kamera.
„Was meine Kollegin Gloria – die ihre Tätigkeit als Privatdetektivin gerne tarnt und immer vorgibt, sie handele mit allerlei Krimskrams im Internet – was Gloria also herausgefunden hat, ist folgendes: Drei Männer lernten sich in Afghanistan während eines Einsatzes kennen. Nur zwei dieser drei Männer kamen nachhause. Einer wurde durch eine Granate getötet. Was jedoch niemand wusste, war, dass nicht die Person getötet worden war, deren Name auf dem Totenschein stand. Es hatte nämlich nicht Luca Altmeier erwischt, sondern den Sohn der reichen Dame: Tom Wolter. Wie Sie aber sehr wohl sehen können, sahen sich Tom und Luca recht ähnlich. Sie hätten Brüder, wenn nicht sogar Zwillinge sein können. Tom hatte jedoch ein auffälliges Detail, das er einem ersten Auslandseinsatz zu verdanken hatte: Eine Narbe über dem rechten Auge. Nichts, was man nicht mit einem heißen Messer hinbekommen würde. Aus Luca wurde – auch dank der Computerkenntnisse des gemeinsamen Freundes Magnus – Tom, der Sohn der reichen alten Dame, der früher oder später den Großteil des Vermögens erben würde.“
Rickenbacker unterbrach seine Erklärung für einen Moment. Er blickte herüber zu Tom – der eigentlich Luca hieß – und Magnus. Zwei der Polizisten hatten sich jetzt neben die beiden gestellt. Luca wirkte betont gelassen, während sich auf Magnus Stirn erste Schweißperlen bildeten.
„Gloria hatte das alles herausgefunden. Henrietta hatte sie damit beauftragt. Doch Gloria dachte nicht daran, der alten Dame Bericht zu erstatten. Sie wollte den falschen Tom erpressen. Sie wollte etwas abhaben von dem Kuchen.“
Ich glaubte, mich verhört zu haben. Dieser Schnüffler stellte meine Gloria in ein ganz schlechtes Licht. Aber andererseits hatte sie am gestrigen Abend verdammt nervös gewirkt – wie jemand, der sich auf ein gefährliches Spiel einlässt.
„Luca konnte das Ganze nicht akzeptieren. Schließlich musste er schon mit Magnus teilen. Also ersann er einen Plan, wie er Gloria loswerden konnte, ohne als Mörder entlarvt zu werden.“
„Und Sie haben es durchschaut?“, fragte Strobel.
„Sehr wohl. Es war eigentlich ganz einfach. Als Täter wurde Glorias Mann, der etwas einfältige Oskar, gewählt.“
Einfältig! So eine Frechheit. Ich beschloss, Rickenbacker – sobald ich herausgefunden hatte, wie man spukt – heimzusuchen.
„Das Problem war nur, wie man die offensichtlichen Schmauchspuren auf seine Hand und seine Fingerabdrücke auf die Waffe und die Patronen bekommen würde. Hierfür gingen Magnus und der falsche Tom mit Oskar zum Schießen in den Wald. Magnus trank ein Bier und warf die Dose laut scheppernd auf den Boden. Ich bin den dreien gestern Abend gefolgt. Es war ein herrliches Theater. Die beiden Exsoldaten sorgten dafür, dass Oskar seine Waffe selbst lud und einen Schuss abfeuerte. Danach schoss Luca noch auf die Tontöpfe.“
„Die Töpfe waren unversehrt“, sagte der Kommissar.
„Sie haben es immer noch nicht kapiert, oder?“
„Was habe ich noch nicht verstanden?“
„Die drei – oder viel mehr die zwei, denn Oskar hatte keinerlei Orientierung – führten Sie heute Morgen zu einer völlig anderen Stelle. Dort fanden Sie vermutlich eine Bierdose und vier unversehrte Blumentöpfe vor. Alles wurde von den beiden so arrangiert, dass sich die beiden Orte ähnelten wie ein Ei dem anderen. Bis auf die Einschusslöcher in den Bäumen und die Patronenhülsen am Boden.“
Ich Idiot. Ich hätte aber auch von selbst darauf kommen können.
„Jedenfalls gingen die drei nach ihrem nächtlichen Spaziergang zurück zum Schloss, wo Oskar zunächst mit Sophia sprach.“
„Das stimmt, er hat mit mir gesprochen“, sagte Sophia.
„Die beiden anderen – vermutlich Luca – verabredeten sich mit Gloria im Durchgang. Sie erschossen sie an Ort und Stelle und warteten auf Oskar, um ihn niederzuschlagen und ihm die Waffe in die Hand zu drücken. Als Oskar schließlich eintraf, schloss er hinter sich ab und fiel, noch bevor er den Schlüssel abziehen konnte, in Ohnmacht. Ein wahres Geschenk für unsere Mörder. Sie legten die Waffe neben Oskar auf den Boden und machten sich durch die zweite Tür auf und davon. Jetzt befand sich Oskar in einem geschlossenen Raum mit der Tatwaffe und dem Mordopfer. Nur er konnte es gewesen sein. Perfekt. Luca und Magnus mussten jetzt nur noch einen kleinen Umweg in Kauf nehmen. Einmal rund um das Gebäude rennen, ab ins Zimmer und eine heiße Dusche nehmen. Das muss so gegen drei Uhr gewesen sein. Und der Rest ist Geschichte, wie man so sagt.“
„Das ist doch alles gelogen!“, rief Luca.
„Ich wars nicht, er war es!“, platzte es aus Magnus heraus.
„Du verdammter Verräter!“, schrie Luca.
„Das reicht jetzt!“, sagte Kommissar Strobel. „Wir werden das überprüfen. Bitte führen Sie die beiden ab.“
„Sie hören von meinem Anwalt!“, rief Luca.
„Gerne doch“, sagte Rickenbacker.
Dann drehte er sich um und sah Tante Henrietta an.
„Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Ihr Verdacht, Tom sei nicht Tom, hat sich leider bestätigt. Leider habe ich unterschätzt, dass der falsche Tom bis zum Äußersten gehen würde. Ansonsten hätten Gloria und Oskar nicht sterben müssen.“
„Ich danke Ihnen dennoch. Wer weiß, was Tom sonst noch angerichtet hätte. Vermutlich hätte er irgendwann auch nicht mehr davor zurückgeschreckt, mich und die liebe Juliette zu ermorden. Ich werde ihn noch heute aus meinem Testament streichen. Seinen Anteil erhält meine Nichte Sophia.“
„Die kann es vermutlich auch gebrauchen“, sagte Annabelle. „Komm Franni, wir gehen rein und frühstücken.“
„Ich schwöre dir: Wenn du mich noch einmal Franni nennst, wars das mit uns.“
Annabelle lachte.
„Geht klar, Franni.“

© 2024 David schreibt

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