Vor langer Zeit hat mir der liebe Lutz obigen Titel vorgegeben. Vor noch längerer Zeit hat er mit den bereits veröffentlichten Text über Körzdörfers Kratzen geschenkt. Hier ist nun ein weiterer Körzdörfertext.
Körzdörfer lag
mal wieder wach in seinem Bett. Ein tiefsitzender Teil seines Reptilienhirns
wünschte sich, er läge wach in Emilias Bett, doch es gab gute Gründe, warum dem
nicht so war.
Emilia war vor etwa einem Monat zu seinem Forscherteam gestoßen. Ihre
Reputation passte nicht mehr wirklich zu Körzdörfers aktuellem
Untersuchungsgebiet. In Emilias Bewerbung stand nämlich noch, sie sei eine
Koryphäe auf dem Gebiet des „Kratzens“, doch Körzdörfer hatte sich bereits
anderen Themen – wie zum Beispiel der „Entschleunigung des Nagelwachstums“ –
zugewandt.
Er hatte sie dennoch in sein Team aufgenommen und Emilia hatte sich direkt gut
eingearbeitet.
„Da sieht man mal wieder, dass sich ein wahrer Wissenschaftler für jede Disziplin
begeistern kann“, dachte Körzdörfer, der sich doch auch für jede Disziplin
begeistern konnte, ausgenommen der Kunst und der Literatur. In jenen Zweigen
des Baums des Wissens wurde – Körzdörfers Meinung nach – keine zielführende
Forschung betrieben, was, wie er nicht müde wurde zu erläutern, daran lag, dass
es nichts zu erforschen gab.
Das erste Mal war Körzdörfer der Glanz in Emilias Augen aufgefallen, als sie
ihm im Labor half, die Proben – abgestorbene Zehennägel, Haare, verfaulte
Backenzähne und Hautschuppen – zu katalogisieren. Über dem blassen Blau ihrer
Iris schimmerte ein leichter Tränenfilm, auf den das Licht der Laborlampe in
einem solchen Winkel fiel, dass es sich, dank der Interferenzen zwischen den
verschiedenen Wellenlängenbereichen, in die Spektralfarben zerlegte.
Wunderschön. Körzdörfer verspürte sofort ein Kribbeln in der Magengegend: Das
untrügliche Zeichen dafür, dass er auf ein neues Forschungsgebiet gestoßen war.
Emilia hatte ein wenig verwundert gewirkt, als Körzdörfer sie fragte, ob er den
Glanz ihrer Augen untersuchen dürfte, doch nach einiger Zeit hatte sie
zugestimmt. Alles für die Wissenschaft.
Es blieb jedoch nicht bei den Augen. Emilias Körper erwies sich als eine
Goldgrube der Wissenschaft. So galt es, ebenfalls die Zusammensetzung ihres
Atems, die Fülle ihrer langen hellbraunen Haare, die Form ihrer Ohren und nicht
zuletzt das Vorhandensein des Goldenen Schnitts in ihren Körperproportionen zu
erforschen.
Körzdörfer schrieb Seite um Seite. Er entwarf Computerprogramme, die ihm bei
der Auswertung seiner Studie halfen. Und wie durch ein Wunder – oder einfach
nur deshalb, weil Amazon seine Tätigkeit auf dem Rechner überwachte – wurde ihm
eines Tages bei der Internetrecherche eine Werbeanzeige für ein Buch
eingeblendet. Es war Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“.
Körzdörfer hatte mal von der Existenz dieses Buches gehört, so wie man
wahrnimmt, dass es Blätter an den Bäumen gibt, doch er hatte es nie gelesen.
Jetzt wurde er aufmerksam, und aus einem Impuls heraus bestellte er es sich.
Eigentlich hielt er sich nicht für einen impulsiven Menschen. Fragte man jedoch
seine Kollegen, so äußerten die meisten, sein Forschungseifer hätte schon etwas
von einem impulsiven Kleinkind, das ständig ein neues Spielzeug brauche.
Am nächsten Tag las Körzdörfer den „Werther“ in einem Zug durch. Und dieses
Buch machte etwas mit ihm. Es pflanzte einen Samen in sein Hirn. Einen Samen,
der so klein war, dass er beinahe von den übrigen Gedanken, die jede Minute in
Körzdörfers Kopf entstanden, zerdrückt worden wäre, doch wie durch Zauberhand
geschah es, dass der Same zu keimen begann und aus ihm eine herrlich große
Pflanze erwuchs.
Die Pflanze hatte den Namen „Erkenntnis, dass das Kribbeln, das er in Emilias
Nähe empfand, nichts mit seinem Drang nach Forschung zu tun hatte, sondern
schlicht ‚Verliebtheit‘ war“. Es war spät in der Nacht, als ein Ast der
mittlerweile ausgewachsenen Pflanze abbrach und Körzdörfer genau auf den Kopf
fiel. Er schreckte in seinem Bett hoch und das erste, was er sah, waren ihre
Augen und der leichte Schimmer darin.
War es möglich, dass er verliebt war? Um Gottes Willen, nein!
Okay, Körzdörfer glaubte nicht an Gott, ebenso wenig an die Liebe.
Aber Emilia…
„Nein, das ist auch völlig denkunmöglich!“
Er löschte das Licht und schloss die Augen und dann sah er sie wieder. Ihre
perfekt geformten Ohren und er verspürte den völlig unlogischen Drang, mit
seiner Zunge den Ohrknorpel und die Ohrmuschel entlangzufahren.
„NEIN!“, schrie er, „DAS IST AUCH VÖLLIG DENKUNMÖGLICH!“
Ende
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