Have a break, write a book

Monat: November 2022

Der Tag, an dem Oskar seine Frau erschoss – Kapitel 4 – Henrietta

Liebe Leserin, lieber Leser,
lange Zeit war es still auf dieser Webseite. Da aber nun aber bald – vielleicht sogar noch dieses Jahr – mein neues Buch erscheint, dachte ich mir, ich veröffentliche mal wieder etwas.
Ein guter Freund meinerseits – Mr Francis Rickenbacker – erlebte letztens eine schöne Feier. Von dieser Feier handelt die nun folgende Geschichte. Jede Woche gibt’s ein neues Kapitel. Los geht’s…

Sophia nahm neben mir Platz. Sie wirkte jetzt etwas gefasster. Gloria begrüßte sie nur kurz, drehte sich dann wieder um.
„Hältst du immer noch Ausschau nach Tom?“, fragte ich.
Gloria gab keine Antwort. Also widmete ich mich Sophia.
„Schick siehst du aus in deinem Kleid.“
Ich war schon immer der König des Smalltalks.
„Danke. Das ist ein fair gehandeltes Biokleid aus Afrika.“
Soso. Ich warf einen Blick auf mein Weinglas, in dem schon wieder Ebbe herrschte und überlegte gerade, ob ich mir Nachschub holen sollte, als Henrietta mit ihrer Mitbewohnerin Juliette hereinkam.
„Jetzt geht es bestimmt gleich los“, sagte ich wie ein Kind, das sich tierisch auf den Beginn einer Geburtstagsfeier freut.
Henrietta war für ihr Alter noch sehr robust. Sie ging nur leicht auf einen Stock gestützt. Wenn ich in ihrem Alter noch so selbstständig wäre, ich würde Purzelbäume schlagen – und mir dabei vermutlich das Genick brechen.
Gloria drehte sich jetzt auch wieder zu uns um.
„Henrietta sieht richtig gut aus.“
Meine Tante hatte ihren Tisch erreicht. Dort saßen außer ihr nur ihr Sohn Tom, die reizende Juliette und der Herr in dem altmodischen Anzug. Sie blieb direkt stehen, nahm einen Löffel und schlug damit gegen ihr Glas. Das wäre nicht nötig gewesen, da sie ohnehin unser aller Aufmerksamkeit hatte.
„Liebe Verwandte, Freunde und Bekannte, ich grüße euch alle ganz herzlich und freue mich sehr darüber, dass ihr alle gemeinsam mit mir meinen Geburtstag feiern wollt.“
Ihre Stimme war etwas dünn. Dennoch war jedes Wort zu verstehen.
„Ich habe euch nicht nur eingeladen, um mit mir hier in diesem wunderschönen Schloss zu feiern. Wir werden heute Abend noch ausreichend Gelegenheit dazu haben, bei Musik und Wein fröhlich zu sein. Ich möchte euch auch etwas wirklich Wichtiges mitteilen.“
Gloria wirkte plötzlich nervös. Sie nahm ein Stück Brot aus dem Korb und zerbröselte es auf ihrem Teller. Auch Sophia wirkte jetzt angespannter. Diese Anspannung übertrug sich auf mich und ich spürte, wie ich den Atem anhielt. Laut hörbar atmete ich aus.
„Doch jetzt lasst uns zuerst essen und trinken und gute Gespräche führen.“
Henrietta hob ihr Glas und wir stießen mit ihr an. Dann setzte sie sich und im gleichen Augenblick setzte wieder allgemeines Gemurmel ein.
„Was glaubst du, was sie uns sagen will?“, fragte Gloria.
„Vielleicht, dass sie uns alle enterbt“, witzelte ich.
„Darüber macht man keine Scherze“, sagte Sophia. Ihre Stimme zitterte.
„Will sonst noch jemand einen Wein haben?“, fragte ich.
„Nein, danke“, sagten Gloria und Sophia im Chor.
„Nun, ich genehmige mir noch ein Gläschen.“
Ich stand auf und ging zur Bar. Magnus hatte mich wohl schon kommen gesehen, denn es stand bereits ein Glas Rotwein auf der Theke. Stumm schob er mir das Glas zu und ich schob ihm einen weiteren Geldschein zu. Dann ging ich zurück zum Tisch. Mein Kopf dröhnte etwas. Vielleicht hatte ich doch schon zu viel getrunken.
Gerade als ich mich wieder gesetzt hatte, kam der Koch zur Tür herein und bat um Aufmerksamkeit.
„Verehrte Jubilarin, geehrte Gäste, meine Helfer tragen nun das Buffett auf. Es gibt heute diverse Delikatessen. Besonders stolz bin ich auf das von mir persönlich zubereitete Wild. Ich wünsche Ihnen allen guten Appetit.“
Die Tür ging auf und drei junge Frauen kamen mit Tabletts und trugen sie zu einer langen Tafel.
„Das ist mal wieder typisch“, sagte Sophia laut.
„Was denn?“, fragte ich.
„Na, er spricht von ‚Helfern‘, hat aber nur ‚Helferinnen‘. Das geht mir so auf die Nerven.“
„Übertreibst du nicht ein bisschen?“
„Überhaupt nicht. Das passiert nämlich ständig. Immer und überall.“
„Hauptsache, es schmeckt“, sagte ich und schämte mich sogleich für diesen dummen Witz.
„Ich gehe mal schnell auf Toilette“, verkündete Gloria und stand auf.
Nachdem sie den Saal verlassen hatte, ließ ich meinen Blick schweifen. Keine Spur von Tom. Zufälle gibt’s.
„Was ist eigentlich mit dir los?“, fragte ich Sophia. Es war an der Zeit, in die Offensive zu gehen.
„Da ist nichts.“
„Das kannst du vielleicht Gloria weißmachen, die heute sowieso etwas neben der Spur ist, aber doch nicht mir. Ich bin dein Cousin. Ich kenne dich, seit gefühlt hundert Jahren.“
„Es ist nichts“, sagte Sophia und stand auf. Einfach so. Sie ging schnurgerade zur Tür hinaus.
Ich warf einen Blick auf mein Weinglas und einen zweiten auf das wundervolle Wild. Dann stand ich ebenfalls auf und folgte Sophia nach draußen. Ich fand sie auf dem Parkplatz, wo sie auf und ab tigerte. Ich gesellte mich zu ihr. Als sie mich bemerkte, blieb sie stehen und sah mich an. Sie zitterte.
„Was ist wirklich los?“, frage ich und wollte sie sanft an der Hand fassen. Doch da fiel sie mir schon um den Hals und begann bitterlich zu weinen.
„Ich bin pleite. Vollkommen bankrott. Ich habe schon seit einem halben Jahr kein Geld mehr. Und die Bank hat mir den Hahn zugedreht. Und meine Investoren wollen endlich Ergebnisse sehen, aber das Computerspiel braucht mindestens noch ein halbes Jahr, ehe es marktreif ist. Und ich weiß nicht mehr, was ich noch tun soll. Seit Wochen ernähre ich mich von Toastbrot und Äpfeln und Wasser und sonst nichts. Ich … Ich kann nicht mehr.“
Ich hatte nur die Hälfte aufschnappen können, doch irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass es Sophia echt schlecht ging.
„Warum hast du denn nicht schon früher mal was gesagt“, fragte ich.
Als Antwort bekam ich nur ein Schluchzen. Sie weinte jetzt hemmungslos und ich fürchtete um mein Hemd. Vielleicht hatte Gloria für genau solche Fälle ein zweites Hemd eingepackt.
„Ich schäme mich so sehr.“
„Das musst du nicht. Sowas kann jedem mal passieren.“
Sophia schniefte nur.
„Ich habe schon überlegt, ob ich nicht ein Angebot aus der Automobilbranche annehmen soll. Ich und für die Autoindustrie arbeiten. Kannst du dir das vorstellen?“
Ich schüttelte nur den Kopf.
„Aber wenn man seit einem halben Jahr auf dem Trockenen sitzt, kommt man schon einmal in die Verlegenheit, gegen seine Prinzipien zu verstoßen.“
„Wem sagst du das“, sagte ich, ohne zu wissen, was ich damit meinte.
„Wie wäre es, wenn du Tante Henrietta um einen kleinen Kredit bittest?“, schlug ich vor.
„Das habe ich vor. Doch dann hat sie diese Andeutungen gemacht, dass sie uns noch irgendwas verkünden will. Ich sehe es schon kommen, dass sie all ihr Geld in einen Kinderhilfe-Fond steckt. Und ich schäme mich dafür, dass ich so denke. Die Kinder brauchen doch das Geld.“
Wieder weinte sie. Ich klopfte ihr sachte auf die Schulter.
„Glaubst du nicht, dass Tante Henrietta genug Geld hat, sowohl den Kindern dieser Welt als auch dir zu helfen? Und wenn sie kein Geld hat, arbeitest du halt für mich. Du wirst sehen, dass die Kundenbedienung Spaß machen kann.“
„Oskar du liebenswürdiger Trottel. Du arbeitest nicht auch zufällig in der Autoindustrie?“
„Nun …“
„Und außerdem schulde ich meinen Investoren das Spiel. Sie haben schließlich eine halbe Million investiert.“
„Soviel? Und das alles für ein Spiel?“
„Du hast keine Ahnung“, sagte sie nur.
„Das stimmt. Aber ich habe Hunger. Und deshalb gehen wir jetzt rein und essen was. Ich rieche Fleisch!“
„Widerlich!“, sagte Sophia und lachte.
Wir gingen zurück in den Saal und schaufelten unsre Teller randvoll. Dann setzten wir uns an unseren Tisch. Gloria war immer noch nicht wieder da.
„Wo die wohl bleibt?“, fragte Sophia.
„Da kommt sie schon.“
Gloria kam zur Tür rein und stellte sich direkt ans Buffet.
Ich wollte mich gerade über mein Wildgulasch hermachen, als Henrietta ein zweites Mal aufstand und an den Rand ihres Weinglases hämmerte.
Alle Augen richteten sich auf den Tisch, der ganz vorne stand.
„Liebe Verwandte, Freunde, Bekannte, ich möchte euch allen heute noch etwas Besonderes mitteilen. Es gibt nämlich noch mehr zu feiern als nur meinen Geburtstag, aber dazu komme ich gleich. Viele von euch wissen, dass ich der Meinung bin, es bringe nichts mehr, in meinem Alter noch Besitztümer anzuhäufen. Ich danke all jenen, die meinem Wunsch nachgekommen sind und etwas für die Kinderhilfe gespendet haben. Doch ich kann nicht von euch allen verlangen, etwas für die gute Sache zu geben und dabei selbst auf einem riesigen Haufen Geld sitzen bleiben. Deshalb habe ich beschlossen, drei Viertel meines Vermögens an die Kindernothilfe zu spenden. Somit ist den Ärmsten geholfen und es bleibt gleichzeitig noch genug Geld übrig, dass ich meiner Familie vermachen kann.“
Wie zu erwarten war, entstand ein allgemeines Gemurmel. Ich sah Gloria an und dann Sophia. Tom, der ganz vorne am Tisch saß – nur zwei Plätze von Henrietta entfernt – begann schallend zu lachen. Henrietta warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
„Damit das alles mit rechten Dingen zugeht, habe ich als Erbverwalterin meine Frau Juliette eingesetzt.“
Man hätte ein Atom fallen hören können.
„Ganz recht, ich habe meine langjährige Mitbewohnerin geheiratet. Das bedeutet nicht, dass ich – wie man so schön sagt – auf einmal vom anderen Ufer wäre. Ich habe meinen Mann geliebt und liebe ihn immer noch. Es ist vielmehr eine ‚Zweckehe‘, in der jede der anderen ihr Vermögen angetraut hat.“
Da ich nicht wusste, was ich machen sollte, begann ich zu applaudieren. Die anderen stimmten der Reihe nach mit ein. Henrietta bedankte sich und setzte sich wieder. Sie strahlte über das ganze Gesicht.

Der Tag, an dem Oskar seine Frau erschoss – Kapitel 3 – Gloria

Liebe Leserin, lieber Leser,
lange Zeit war es still auf dieser Webseite. Da aber nun aber bald – vielleicht sogar noch dieses Jahr – mein neues Buch erscheint, dachte ich mir, ich veröffentliche mal wieder etwas.
Ein guter Freund meinerseits – Mr Francis Rickenbacker – erlebte letztens eine schöne Feier. Von dieser Feier handelt die nun folgende Geschichte. Jede Woche gibt’s ein neues Kapitel. Los geht’s…

Unten war mittlerweile ziemlich was los. Die meisten Gäste kannte ich nicht – viele waren offensichtlich Freunde von Henrietta oder Bekannte und Verwandte aus einem anderen Familienzweig. Ich sah Tom, Annabelle, Simone und noch eine ältere Frau. Das musste Juliette sein, die Mitbewohnerin meiner Tante.
Gloria trug ihr rotes Kleid – es war eher weinrot – und Schuhe mit hohen Absätzen, was sie eigentlich nicht mochte. Wir sahen uns nach etwas zu trinken um. Ich erblickte die Bar und ging zielstrebig auf den jungen Mann zu, der die Gäste bediente. Ich erkannte in ihm Magnus wieder, mit dem Gloria sich bei meiner Ankunft unterhalten hatte.
„Guten Abend Herr Wolter, was darf ich Ihnen anbieten?“, fragte er, als ich den Tresen erreicht hatte.
„Zweimal Weißwein“, antwortete ich.
Eigentlich trank ich viel lieber Rotwein, doch Gloria bevorzugte weißen und so beugte ich mich der Mehrheit – also der Machtinhaberin. Man könnte sagen, dass ich aus Liebe zu meiner Frau versuchte, Weißwein etwas Positives abzugewinnen.
„Ich hätte hier einen wunderbaren Sauvignon Blanc.“
„Immer her damit.“
Während Magnus den Wein einschenkte, lehnte ich mich an den Tresen und sah mich im Raum um. Auf den Tischen standen jetzt Wasserflaschen und Brotkörbe. Etwas abseits von allem stand ein Klavier – eines von den großen Dingern, die man, so denke ich jedenfalls, Flügel nennt. Direkt neben dem Klavier stand eine Musikanlage. Henrietta schien aus unerfindlichen Gründen davon auszugehen, dass irgendjemand Musik hören wollte – oder schlimmer noch: Tanzen würde.
Gleich neben mir an der Bar stand ein älterer Herr. Wobei ich durch einen zweiten Blick feststellte, dass er gar nicht viel älter war als ich. Er war einfach nur viel älter gekleidet.
„Hier bitte sehr“, sagte Magnus, riss mich aus meinen Betrachtungen der Umgebung und reichte mir die bestellten Gläser.
„Danke“, sagte ich nur und nahm die Gläser an mich. Ich war mir nicht sicher, ob ich ein Trinkgeld geben sollte. Da es ein langer Abend werden würde, entschied ich mich dazu, noch etwas zu warten, ehe ich die Spendierhosen anziehen würde.
Ich ging zurück zu Gloria und reichte ihr die beiden Gläser. Sie hatte sich mit einer Frau unterhalten, unterbrach ihr Gespräch aber sofort, sobald ich neben ihr stand.
„Danke, Schatz“, sagte sie und nippte an ihrem Wein.
„Der ist gut, oder?“, fragte ich.
„Sehr gut“, entgegnete sie.
„Wollen wir uns setzen?“
„Gleich, Oskar. Ich suche Tom. Hast du ihn gesehen?“
„Vorhin stand er noch dort neben dem Klavier.“
„Das ist ein Flügel“, verbesserte sie mich.
„Kann schon sein. Jedenfalls habe ich ihn dort gesehen.“
„Ich gehe ihn mal suchen.“
„Was willst du denn von ihm?“
„Such schon mal einen Platz aus. Ich bin gleich wieder da.“
Sie ließ mich stehen. Also suchte ich einen Platz – etwas abseits, aber nicht so weit weg vom Schuss – und stellte mein Glas ab. Ich hängte mein Jackett über die Stuhllehne – das Strandtuch einer jeden Feier – und ging zurück zur Bar.
„Hallo nochmal. Hätten Sie vielleicht auch einen schönen, schweren Rotwein?“, fragte ich Magnus.
„Ich hätte hier einen trockenen Lagrein.“
„Sehr gut. Davon bitte ein halbes Glas.“
„Wieso erklären Sie Ihrer Frau nicht einfach, dass Sie etwas anderes trinken wollen als sie?“, fragte der Mann in den altmodischen Klamotten neben mir.
„Wie?“, fragte ich eloquent zurück.
„Na, Sie können Ihrer Gattin doch einfach sagen, dass Sie lieber roten trinken und Ihre Frau trinkt ihren weißen. Was ist so schwer daran?“
„Nun, das ginge vermutlich“, sagte ich und wandte mich wieder an Magnus.
„Gießen Sie das Glas ruhig voll.“
Magnus tat wie ich ihn hieß. Ich nahm das Glas an mich und wandte mich wieder zur Seite, um mich dem Mann vorzustellen. Doch er hatte sich bereits davon gemacht. Ich sah ihn, wie er sich mit Annabelle unterhielt. Vielleicht ergab sich ja im Laufe des Abends noch die Möglichkeit, seine Bekanntschaft zu machen.
Ich ging zurück zu meinem Platz. Kaum dass ich saß, kam auch schon Gloria und setzte sich neben mich. Sie hatte ihr Glas bereits ausgetrunken.
„Einen guten Platz hast du ausgesucht“, sagte sie und griff nach meinem Weißweinglas.
„Nicht zu nah dran, aber auch nicht in der hintersten Ecke“, murmelte ich.
„Du trinkst Rotwein?“
„Ja. Ich hatte gerade mal Lust auf einen roten. Außerdem gibt es keinen Grund, weshalb wir nicht zwei verschiedene Weine trinken können.“
Sie trank einen weiteren Schluck, ohne auf meine Argumentation einzugehen.
„Hast du Tom gefunden?“
„Ja.“
„Was wolltest du denn vom ihm?“
„Och, nichts. Ich wollte ihm nur etwas geben.“
„Aha.“
Wir nippten an unseren Gläsern.
„Hast du schon mit Tante Henrietta gesprochen?“, frage ich.
„Noch nicht. Das können wir nachher zusammen machen.“
„Du hast doch den Umschlag, oder?“
„In meiner Handtasche.“
Tante Henrietta hatte darauf bestanden, keine Geschenke zu ihrem Geburtstag zu erhalten. Das letzte Hemd habe keine Taschen und sie müsse eher zusehen, wie sie all ihren Besitz loswerde, anstatt neuen anzuhäufen. Also hatte sie eine Spendenbox für Kinder in Not aufgestellt und darum gebeten, eifrig zu geben. Eine Heilige. Aber wahrscheinlich war sie tatsächlich in einem Alter, in dem es angebracht war, sich um sein Seelenheil zu kümmern.
„Weißt du, wer der Mann neben Annabelle ist?“, fragte ich.
Gloria sah sich kurz im Saal um, ehe sie Annabelle erblickte.
„Der Herr in dem schicken Anzug? Den habe ich noch nie gesehen. Interessant sieht er aus.“
„Ich glaube, ich hole mir noch ein Glas“, sagte ich und stand auf.
„Bringst du mir auch noch eins mit?“
Ich sah sie erstaunt an. Drei Gläser in so kurzer Zeit?
„Für nachher, zum Essen“, sagte sie.
Irgendwie war es ihr gelungen, meine Gedanken zu lesen.
Ich ging zurück zu Magnus und gab meine Bestellung auf.
„Weißt du, wer der Herr ist, der eben hier gestanden hat?“, frage ich Magnus.
„Der mit der Weste?“, fragte er zurück.
„Genau.“
„Nie gesehen. Aber ich kenne hier außer Tom und Henrietta niemanden.“
„Aber müssen Barkeeper nicht immer ihre Kunden in ein Gespräch verwickeln? Sie wissen schon: Wie im Krimi.“
Magnus lachte.
„Das kann schon sein. Doch eigentlich bin ich gar kein Barkeeper. Ich mache das nur, weil der richtige Barkeeper die Grippe hat.“
„Auf jeden Fall machen Sie Ihre Sache gut“, sagte ich und beschloss, dass es Zeit für ein erstes Trinkgeld war. Ich griff in meine Hosentasche und zog einen Zwanziger hervor.
„Hier, für Sie.“
„Danke, aber das kann ich nicht annehmen.“
„Wenn Sie es nicht annehmen, sage ich es meiner Frau. Und die kann sehr überzeugend sein.“
„Das habe ich bereits gehört“, sagte Magnus.
Ich lachte.
„Sie meinen die Sache mit dem Wein? Nun, eigentlich hat sie nie irgendwas gesagt. Ich habe mich eher aus vorauseilendem Gehorsam gebeugt.“
Jetzt war es an Magnus zu lachen.
„Geben Sie her“, sagte er und nahm den Geldschein.
„Bevor ich es mit ihrer Frau zu tun bekommen, nehme ich lieber Ihr Trinkgeld an.“
Ich lachte ebenfalls, nahm die Weingläser und ging damit zurück zu Gloria. Sie knabberte an einem Stück Brot und blickte nachdenklich ins Nirgendwo.
„Hier Schatz“, sagte ich und stellte den Wein vor ihr auf den Tisch.
Gloria zuckte zusammen.
„Danke“, sagte sie etwas übereilt.
„Es hat etwas länger gedauert. Ich habe mich noch mit diesem Magnus unterhalten. Du weißt schon: Der Mann, mit dem du heute auf der Terrasse gestanden hast.“
„Ah, Herr Holgersson. Das ist ein ganz netter“, sagte sie. „Er ist ein Freund von Tom.“
„Richtig. Wo ist der überhaupt?“
„Wer?“, fragte Gloria.
„Tom. Ich sehe ihn nirgendwo.“
„Ach der. Der war vorhin noch draußen im Durchgang.“
„Was wolltest du eigentlich von ihm?“
„Nichts wichtiges.“
Mittlerweile merkte sogar ich, dass Gloria mir auswich.
„Hast du Sophia gesehen?“, fragte sie.
„Nein.“
„Vielleicht guckst du mal nach ihr. Sie sah ja wirklich nicht gut aus.“
„Das hat sich erledigt“, sagte ich und winkte Sophia zu, die in diesem Moment den Saal betrat.

Der Tag, an dem Oskar seine Frau erschoss – Kapitel 2 – Sophia

Liebe Leserin, lieber Leser,
lange Zeit war es still auf dieser Webseite. Da aber nun aber bald – vielleicht sogar noch dieses Jahr – mein neues Buch erscheint, dachte ich mir, ich veröffentliche mal wieder etwas.
Ein guter Freund meinerseits – Mr Francis Rickenbacker – erlebte letztens eine schöne Feier. Von dieser Feier handelt die nun folgende Geschichte. Jede Woche gibt’s ein neues Kapitel. Los geht’s…

Sophia war schon immer eine Idealistin. Und genau das wurde ihr an diesem Tag zum Problem. Sie ist meine Cousine – meine Tante Cornelia war ihre Mutter – und wir kennen uns schon seit unserer Kindheit. Sophias Idealismus zeichnete sich bereits im Kindergarten ab, wenn sie die Bauklötze gerecht auf alle Kinder aufteilte oder allen solange untersagte, Bilder auszumalen, bis nicht auch der kleine Timo ein paar Buntstifte bekam. Dass Timo in Wahrheit viel lieber mit den Kuscheltieren spielen wollte, interessierte niemanden.
Im Alter von zehn Jahren verkündete Sophia, sie sei nun Vegetarierin. Keine zwei Jahre später konvertierte sie zum Veganismus – alles der Umwelt zur liebe, und weil sie es nicht ertrug, dass ihretwegen Lebewesen auf die grausamste Art ausgebeutet wurden. Wieso musste sie mir diesen Vortrag ausgerechnet halten, als ich gerade genüsslich ein Steak in mich hineinschaufelte?
Wie dem auch sei. Sophia besaß aus diesem Grunde auch kein Auto und mied Taxen, wo es nur ging, da sie es nicht aushielt, dass ein Fahrzeug nur ihretwegen giftige Abgase in die Umwelt pustete. Also fuhr sie Bahn, Bus und Rad oder ging schlicht alles zu Fuß. In Berlin konnte sie sich das erlauben, doch wenn größere Strecken zurückzulegen waren, kam sie ganz schön in die Bredouille. Und wieso musste Tante Henrietta ihren Geburtstag auch am Arsch der Welt feiern?
Sophia fuhr also mit dem Bus von Berlin raus aufs Land. Ihr Gepäck bestand aus einem fair gehandelten, biologisch abbaubaren Koffer, der aussah, als fiele er jeden Moment zusammen. Wenigstens könnte man ihn dann direkt an Ort und Stelle liegen lassen – denn ich bin mir sicher, dass Sophias Kleidung ebenfalls biologisch abbaubar ist.
Sophia rief mich von unterwegs aus an.
„Hallo Lieblingscousin“, sagte sie.
„Hallo Lieblingscousine“, erwiderte ich, was ein wenig unsinnig ist, da Sophia meine einzige Cousine ist.
„Kannst du mich in einer Viertelstunde an der Bushaltestelle abholen?“
„Hältst du es denn aus, dass ich extra für dich mit dem Auto fahre?“
„Es ist ja auch für Tante Henrietta“, sagte sie.
„Dann ist es wohl in Ordnung. Ich mache mich sofort auf den Weg. Sag mir nur noch, wo genau ich dich abholen soll.“
Sophia nannte die Haltestelle und ich machte mich auf den Weg.
Die Fahrt dauerte keine fünf Minuten, so dass mir noch Zeit blieb, eine Zigarette zu rauchen, bevor Sophia mir Vorwürfe machen konnte, ich zerstöre nicht nur mein Leben, sondern auch die Umwelt und vor allem die Natur in Südamerika.
Nach der Zigarette lutschte ich ein Pfefferminzbonbon, um den Geruch des Rauches zu überspielen. Ich kam mir ein bisschen vor wie damals in der fünften Klasse, als ich mit dem Rauchen angefangen hatte.
Das Bonbon hatte sich soeben in seine zuckrigen Bestandteile aufgelöst, da kam auch schon der Bus. Sophia war der einzige Fahrgast. Wir begrüßten uns herzlich und ich lud ihren Koffer in mein Auto. Als ich den Motor startete, schaltete Sophia die Klimaanlage aus und öffnete stattdessen das Fenster.
„Wenn du maximal 80 Stundenkilometer fährst, ist es besser, wenn du das Fenster offen hast. Außerdem produzierst du nicht so viel Kohlendioxid, wenn du langsamer fährst.“
„Aber ich bekomme einen steifen Hals“, sagte ich, schloss die Fenster wieder und schaltete die Klimaanlage an.
„Typisch Mann“, sagte Sophia und verdrehte die Augen.
„Wie geht es dir?“, fragte ich, um das Thema zu wechseln.
„Gut.“
Ich schielte auf den Beifahrersitz. Sophia war noch dünner geworden und sah schrecklich aus. Dass es ihr gut ging, konnte sie einem Deppen erzählen, der zu blöd wäre, aus einem Boot ins Meer zu pinkeln. Ich entschloss mich, nicht auf ihren Gesundheitszustand einzugehen.
„Was macht die Arbeit?“
„Die läuft super!“
Lüge Nummer zwo.
„Wenn alles klappt, kriege ich für mein nächstes Projekt eine Förderung vom Land. Vielleicht sogar eine vom Staat. Es wird super.“
„Was machst du zur Zeit?“
„Eine WiSim für Mobile“, sagte Sophia, als verstünde irgendjemand, was sie meinte.
„Ach so“, entgegnete ich nur. „Und worum geht es?“
„Ich entwickle eine Wirtschaftssimulation, bei der es darauf ankommt, den Planeten durch kluge Entscheidungen zu retten und auf der Welt eine gerechte und soziale Umverteilung der Ressourcen zu erreichen.“
„Okay.“
Sophia entwickelte Videospiele. Neben ihrem Idealismus in allen Dingen waren Computerspiele schon immer ihre Leidenschaft gewesen. Als ich sie einmal darauf hingewiesen hatte, dass man für die Herstellung von Computern auf Rohstoffe zurückgriff, die in ärmeren Ländern gewonnen wurden, warf sie mir Schlicht „Whataboutism“ vor. Ich musste das Wort erst einmal nachschlagen. Nachdem ich festgestellt hatte, dass es sich nur um eine bloße Rechtfertigungsausrede handelte, die gerne benutzt wurde von Leuten, die unethisch handelten, dachte ich mir, dass es die Luft zum Atmen nicht Wert sei, mich auf eine Diskussion mit Sophia einzulassen.
Aber ich schweife ab. Sophia bastelt also Computerspiele. Und sie erhält Fördergelder. Und aus unerfindlichen Gründen verliert sie permanent an Gewicht.
„Wie geht es Gloria?“, fragte Sophia.
„Gut. Sie sprüht vor Energie. Sie handelt immer noch mit irgendwelchen Dingen im Internet. Frag lieber nicht.“
„Und deine Tankstelle läuft gut?“
„Sehr gut sogar.“
Auf einer Skala der Verachtung von eins bis zehn erhalte ich von Sophia für meine Investition in eine Tankstelle mindestens eine neun. Aber sie arbeitet an sich und hat sich mittlerweile ganz gut im Griff.
„So, da wären wir“, sagte ich, als ich den Golf zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Parkplatz vor dem Schloss lenkte.
Sophia stieg aus und hatte sich, ehe ich ihr meine Hilfe anbieten konnte, schon ihren Koffer geschnappt.
„Danke fürs Abholen. Bis nachher“, sagte sie und verschwand nach drinnen.
Ich blieb noch neben dem Auto stehen und rauchte eine zweite Zigarette.
Was war nur los mit Sophia? Ich vermutete nicht, dass sie krank war. Sie hatte eher abgemagert gewirkt – fast so, als habe sie in letzter Zeit nichts gegessen. Dabei liebte sie es, zu essen. Schon als Kind hatte sie immer Unmengen verschlungen. Anfangs noch Wurst und Käse und Fleisch, später dann Salat und Salat und Salat. Aber sie hatte noch nie so ausgezehrt gewirkt. Vermutlich hatte sie einfach Stress auf der Arbeit und dabei das Essen vergessen. Ich würde sie am Abend im Auge behalten.
Gloria kam aus dem Schloss.
„Oskar, da steckst du. Ich habe dich überall gesucht.“
„Ich habe Sophia vom Bus abgeholt.“
„Das dachte ich mir schon. Aber jetzt komm rein. Du musst dich doch noch umziehen.“
Ich sah auf die Uhr. Es war mittlerweile kurz vor fünf. In einer Stunde sollte der ganze Zinnober losgehen. Ich warf meine Zigarette auf den Boden und zertrat sie mit dem Absatz. Dann ging ich mit Gloria nach drinnen.
„Was guckst du denn so nachdenklich?“, fragte sie.
„Es ist nichts. Nur Sophia macht mir ein wenig Sorgen.“
„Wieso?“
„Sie wirkt so gestresst.“
„Sie ist eine selbstständige Frau und groß genug, selbst auf sich aufzupassen.“
„Vielleicht sollte ich mal mit ihr reden.“
„Tu, was du nicht lassen kannst. Aber untersteh dich, Witze über ihren Lebensstil zu machen.“
„Ich doch nicht“, sagte ich lachend.
Wir hatten unser Zimmer erreicht.
„Jetzt zieh dich schnell um und dann ab nach unten“, wies Gloria mich an.
„Ich dusche vorher nochmal.“
„Schon wieder?“
„Ich will eben glänzen für meine Tante.“
„Dann beeil dich.“
Ich ging ins Bad und duschte. Als ich wieder ins Schlafzimmer kam, hatte Gloria bereits ihr Kleid angezogen. Sie sah einfach nur wundervoll aus. Ich würde neben ihr wie ein billiger Abklatsch von einem gut gekleideten Mann wirken. Trotzdem schlüpfte ich in meinen Anzug, band mir die Krawatte um und besah mich dann im Spiegel. Sah ich gestresst aus? Höchstens ein bisschen.

Der Tag, an dem Oskar seine Frau erschoss – Kapitel 1 – Oskar

Liebe Leserin, lieber Leser,
lange Zeit war es still auf dieser Webseite. Da aber nun aber bald – vielleicht sogar noch dieses Jahr – mein neues Buch erscheint, dachte ich mir, ich veröffentliche mal wieder etwas.
Ein guter Freund meinerseits – Mr Francis Rickenbacker – erlebte letztens eine schöne Feier. Von dieser Feier handelt die nun folgende Geschichte. Jede Woche gibt’s ein neues Kapitel. Los geht’s…

Der Tag, an dem ich meine Frau umbringen würde, kam daher wie ein ganz gewöhnlicher Dienstag – dabei war doch Freitag. Ich stand wie jeden Morgen früh auf, machte für mich und Gloria das Frühstück und ging dann ins Bad, um mich zu waschen. Als ich wieder ins Schlafzimmer trat, um Gloria zu wecken, war sie bereits die Koffer am Packen.
„Nimmst du nun den braunen oder den blauen Anzug mit?“, fragte sie.
Sie hatte immer noch ihren Pyjama an und sah hinreißend darin aus.
„Was wirst du tragen?“, fragte ich zurück.
„Das rote Kleid. Das, was ich mir letzten Sommer gekauft habe.“
Sie deutete auf ihr Kleid, das – eingepackt in eine Plastikhülle – am Kleiderschrank hing.
„Na dann passt ja wohl eher der blaue Anzug“, meinte ich.
„Ich pack dir den braunen ein“, sagte sie und hängte den blauen Anzug wieder in den Kleiderschrank.
„Ich habe Frühstück gemacht. Wenn du dich beeilst, können wir noch zusammen essen.“
„Musst du denn heute noch unbedingt arbeiten?“, fragte sie.
„Es geht nicht anders. Die Trottel da oben haben mal wieder irgend so ein Paket beschlossen, was dazu geführt hat, dass der Ölpreis in den Keller gefallen ist. An der Tanke wird heute die Hölle los sein. Das kann und werde ich Susi nicht allein zumuten. Aber ich verspreche dir, dass ich rechtzeitig zu Henriettas Feier erscheinen werde.“
Ihre Frage hatte natürlich auch beinhaltet, wieso ich denn überhaupt arbeiten musste. Sie machte doch auch nur das Nötigste mit ihrem Blumenversandhandel oder was auch immer sie da für eine Sache im Internet am Laufen hatte.
„Denk bitte daran, dass du im Schloss noch duschen musst. So zerknittert kommst du mir nicht in deinen Anzug.“
„Das habe ich auf der Uhr.“
Ich sah auf meine Uhr und stellte erschrocken fest, dass ich in einer halben Stunde auf der Arbeit sein musste. Somit fiel unser gemeinsames Frühstück wohl ins Wasser.
„Ich geh dann mal. Wir sehen uns heute Abend.“
„Du machst mich fertig, Oskar.“
Ich gab Gloria einen Kuss auf die Wange und eilte in die Küche, wo ich ein Brötchen und eine Tasse Kaffee verschlang. Dann fuhr ich mit dem Auto zur Tankstelle.
Die Tanke habe ich seit etwas über einem Jahr gepachtet. Ich war schon immer in Autos vernarrt – als Kind wollte ich immer Rennfahrer werden – und als ich dann vor zwei Jahren sechs Richtige im Lotto hatte, hängte ich kurzerhand meinen Job an den Nagel und pachtete die kleine Tankstelle in einem Berliner Vorort.
Sie liegt direkt an einer Landstraße in einem kleinen Dorf in Brandenburg. Man könnte denken, dass sich hierher niemand verirrt, doch das Gegenteil ist der Fall. Bei uns tankt wirklich jeder und seine Mutter. Mit „uns“ meine ich übrigens Susi und mich. Susi ist … nun, wie drücke ich es diplomatisch aus? Susi ist speziell. So könnte man es nennen. Man könnte auch sagen, sie sei zurückgeblieben – was vermutlich auch stimmt – oder vielleicht sogar geistig behindert – was nur an schlechten Tagen stimmt. Ich mag sie und sie mag mich und sie macht einen wirklich guten Job.
Während ich der Landstraße hinaus ins Nirgendwo folgte, dachte ich an Tante Henriettas Geburtstagsfeier. Sie ist die letzte verbliebene Verwandte aus der Generation meiner Mutter. Ihr Mann, meine Eltern und meine drei Onkel sind bereits alle verstorben – was einem echt zu denken gibt, da Gloria und ich ebenfalls nicht mehr die Jüngsten sind. Henrietta hatte sie alle überlebt. Und an diesem Wochenende feierte sie ihren 90. Geburtstag. Dazu hatte sie alle in ein kleines Schloss draußen in Brandenburg eingeladen. Gloria hatte den Namen der Ortschaft bereits gestern in mein Navi eingegeben, so dass ich nachher nur noch auf „Navigation starten“ drücken musste. Was für eine Erleichterung diese moderne Technik doch für einen orientierungslosen Waschlappen wie mich darstellte.
Ich erreichte die Tankstelle und sah zu meinem Entsetzen, dass Susi hoch oben auf einer wackligen Leiter herumturnte und die Anzeigetafel aktualisierte. Meine Tankstelle ist nämlich noch nicht ganz auf dem neuesten Stand der Technik. Wahrscheinlich befindet sie sich noch nicht einmal auf dem Stand von vor fünfzig Jahren. Jeden Tag muss einer von uns – meistens ich – dreimal auf die Leiter steigen und die Preise für Benzin und Diesel anpassen.
Jetzt stand Susi auf der Leiter und winkte mir zu. Verdammt nochmal, mein Herz blieb fast stehen, als ich sie so freihändig in fünf Meter Höhe sah.
„Tach Chef!“, rief sie freudestrahlend.
Ich ließ meinen Wagen ausrollen und parkte ihn hinter der Tankstelle. Dann eilte ich nach vorn. Ich wollte wenigstens die Leiter festhalten. Vielleicht würde ich Susi auch noch zurechtweisen, wobei ich sie keines Falls anschreien durfte, denn dann würde sie sicher in Tränen ausbrechen und ich konnte heute keine emotionalen Ausbrüche verkraften.
Susi stieg die Leiter vorsichtig herunter. Dabei murmelte sie immer wieder „Runter ists schwerer als rauf.“ Als sie unten ankam, sah ich sie böse an, doch mein Blick entspannte sich sobald ich in ihr Gesicht sah. Sie strahlte so sehr, da konnte ich ihr nicht böse sein.
„Ich hab alle Preise eingestellt, Chef. Wollte erst auf Sie warten, weil ich Angst vor der Leiter hatte, aber dann habe ich mir gedacht, ich stell sie schon mal neu ein.“
„Das hast du gut gemacht“, sagte ich.
Ich klopfte ihr auf die Schulter.
„Ich mache uns jetzt erst einmal einen Kaffee und du gehst nach hinten und schaltest die Pumpe ein.“
„Mach ich, Chef!“
Susi ging nach hinten in die Garage und ich trat in den Verkaufsraum. Nachdem ich die Kaffeemaschine – einen Vollautomaten, auf den ich besonders stolz war – eingeschaltet hatte, spulte ich die Bänder der Überwachungskamera zurück – wie gesagt: Die Tankstelle hinkt der Gegenwart ein wenig hinterher.
„Die Pumpe läuft“, verkündete Susi, als sie in den Verkaufsraum trat.
„Das ist gut“, antwortete ich und reichte ihr eine Tasse Kaffee.
Ich trank einen Schluck und überlegte mir, wie ich es fertig bringen konnte, Susi zu erklären, dass ich am Wochenende nicht da sein würde.
„Ich muss dir noch was sagen“, versuchte ich es vorsichtig.
„Was denn?“, fragte sie nur.
„Ich bin an diesem Wochenende nicht da. Ich bin auf einer Feier.“
Susi hielt mitten in einem Schluck inne, bis sie plötzlich laut aufschrie.
„Aua, ich hab mir die Zunge verbrannt.“
Ich reagierte blitzschnell und reichte ihr eine Cola aus dem Regal.
„Hier, trink das.“
Susi riss mir die Dose förmlich aus der Hand und trank sie mit drei gierigen Schlucken aus.
„Geht’s?“, fragte ich.
Sie nickte.
„Hab mich nur ein kleines bisschen verbrannt, als du gesagt hast, ich wäre ganz allein hier am Wochenende.“
„Du bist nicht allein, Susi. Igor kommt und hilft dir.“
„Igor Nikulin?“
„Genau der.“
Diese Information schien sie zu beruhigen.
„Dann bin ich ja doch nicht allein.“
„Bist du nicht. Und jetzt trink deinen Kaffee aus und dann ab an die Arbeit. Die Zeitungen müssen noch eingeräumt werden.“
„Mach ich, Chef“, sagte Susi und trank ihren Kaffee aus – nicht ohne zwischen zwei Schlucken immer wieder zu pusten.
Ich stellte mich hinter die Kasse und fuhr den Rechner hoch – gerade noch rechtzeitig, wie sich herausstellte, denn schon bildete sich draußen seine Schlange an den drei Zapfsäulen. Die Leute wollten noch einmal Tanken vor dem Wochenende. Vor allem, wo der Sprit so günstig war, wie sonst nur dienstags, wo die Preise meist am niedrigsten waren.
Gerade kam ein Kunde zur Tür herein, dessen Bauch-Beine-Index ich als äußerst ungünstig einstufte. Sein Bauch war so dick und rund, dass er den Sitz seines Autos vermutlich bis ganz nach hinten fahren musste, um überhaupt hinter seinem Lenkrad Platz nehmen zu können. Gleichzeitig hatte er so kurze Beine, dass er den Sitz gar nicht bis nach ganz hinten schieben konnte, wenn er die Pedale noch erreichen wollte. Unwillkürlich musste ich an den kleinen Jungen aus dem Indiana Jones Film denken, der sich Holzklötze unter die Schuhe geschnallt hatte, mit denen er in die Pedale trat. Vermutlich hatte der dickbäuchige Kunde eine ähnliche Konstruktion – oder er konnte unglaublich gut seinen Bauch einziehen.

Das Navi leitete mich sicher ans Ziel. Das alte Schloss war umgeben von einer weitläufigen Wiese. Auf dem Vorplatz standen bereits die Autos der ersten Gäste. Ich stieg aus meinem Golf aus und eilte zur Vordertür. Gloria hatte mir eine Nachricht geschickt. Sie wartete auf der Terrasse auf mich. Also ging ich nach hinten durch den großen Saal, der bereits geschmückt war. Auf den Tischen lagen weiße Tischtücher und große Blumensträuße standen in schweren Vasen mittig auf den Tischen. Die Tür zur Terrasse stand offen, die Vorhänge wogten leicht im Wind.
Gloria unterhielt sich gerade mit einem jungen Mann, den ich nicht kannte.
„Ah, Oskar, da bist du ja.“
Gloria hatte mich entdeckt und winkte mich herbei.
„Darf ich vorstellen: Das ist mein Mann Oskar und das ist Herr Holgersson. Magnus Holgersson.“
„Guten Tag“, sagte der Mann ein wenig steif und reichte mir die Hand.
Sein Händedruck war fest, wie überhaupt seine ganze Körperhaltung.
„Oskar Wolter“, sagte ich recht überflüssig. „Angenehm.“
„Sie sind der Neffe von Henrietta, nehme ich an.“
„Ganz recht. Ich komme aus Berlin.“
Gloria unterbrach unseren Smalltalk.
„Schatz, du musst noch duschen und dich umziehen. Nachher könnt ihr euch unterhalten. Vielleicht geht ihr ja auch noch zusammen auf die Jagd.“
Ich verstand nicht, was sie meinte und das sah man mir wohl auch an.
„Ich bin Jäger“, sagte Holgersson zur Erklärung.
„Ach so“, sagte ich. „Davon müssen Sie mir nachher mehr erzählen, doch jetzt muss ich mich wirklich umziehen.“
„Hier sind die Schlüssel“, sagte Gloria und gab mir einen kleinen Schlüsselbund.
„Der große ist für den Durchgang, der kleine für unser Zimmer. Du musst die Treppe rauf und dann nach rechts.“
Ich betrachtete die Schlüssel. Der kleinere von beiden war ein vollkommen normaler Zimmerschlüssel, wenn auch ein recht altes Modell. Der große Schlüssel war interessant. Es handelte sich um einen Berliner Durchgangsschlüssel. Er hatte an beiden Enden einen Bart. So etwas hatte ich bestimmt seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen.
„Ich beeile mich“, versprach ich und ging nach oben.
Auf dem Zimmerschlüssel war die Zimmernummer eingraviert, so dass ich mich schnell zurecht fand. Unser Zimmer war groß, mit einer breiten Glasfront, der ich schon von der Tür aus ansah, dass nachts der Wind durch die alten Fensterscheiben pfeifen würde. Wieso nur konnten sich die Besitzer dieser alten Häuser nicht von den dünnen Fenstern trennen, die bestimmt seit Beginn des letzten Jahrhunderts nicht mehr ausgewechselt worden waren. Ansonsten war der Raum schick eingerichtet mit einem großen Bett und einem wuchtigen alten Holzschrank. Ich schloss die Tür hinter mir und öffnete den Schrank. Gloria hatte ihr Kleid und meinen Anzug aufgehängt. Für den Anzug war es jetzt jedoch noch zu früh. Den würde ich erst in ein paar Stunden anziehen. Gloria befürchtete immer, ich könnte meine frisch angezogenen Klamotten verschmutzen. Also nahm ich ein einfaches Hemd und eine schicke Hose aus dem Schrank und ging ins Bad. Als ich den Duschhahn aufdrehte, kam zunächst kein Wasser, bis plötzlich unter lautem Dröhnen heißes Wasser aus der Duschbrause schoss. Gute alte Technik aus der Preußenzeit.
Zehn Minuten später verließ ich geschniegelt und gestriegelt unser Zimmer und lief die Treppe nach unten. Gloria erwartete mich in der Halle.
„Oskar, wir sollen noch ein paar Stühle aus dem Lagerraum holen. Magnus ist schon vorgegangen.“
„Okay. Wo ist dieser Lagerraum?“
„Ich gehe vor.“
Gloria ging schnurgerade auf eine Tür zu, die zu einem kurzen Durchgang zu führen schien. Hier blieb sie stehen.
„Du musst aufschließen“, sagte sie.
Ich zog den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Als ich die Tür geöffnet hatte, schob ich den Schlüssel durch das Schloss und betrat den kurzen Flur. Gloria folgte mir und schaltete das Licht ein. Ich zog die Tür hinter ihr zur und schloss ab, ehe ich den Schlüssel wieder abzog.
„Umständliche Türen sind das“, sagte Gloria.
Ich fand diese Art von Tür eigentlich recht interessant. Und irgendwie erinnerte sie mich an meine Kindheit und die Besuche bei meiner Oma Hildegart.
Gloria ging zur zweiten Tür und streckte erwartungsvoll die Hand aus.
„Diesmal schließe ich auf“, sagte sie.
Ich gab ihr den Schlüssel. Wir traten hinaus ins Freie, wo uns bereits Magnus entgegen kam – in jeder Hand zwei Stühle.

© 2024 David schreibt

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