Have a break, write a book

Monat: November 2019

Was länge währt, wird endlich gut

Es tut gut, wenn man die Rückmeldung bekommt, eine Geschichte hätte einem Leser gut getan. Die folgende Geschichte ist eine solche (möglicherweise ist es die einzige meiner Geschichten, über die jemals so etwas gesagt wurde). Der Titel stammt wie schon zuletzt vom Lutz.

„Wieso tun Menschen Gutes?“, fragte Maria in ihrer beider Schweigen hinein und Josef runzelte die Stirn.
„Was?“
Mehr kam nicht. Josef nippte an seinem Bier. Seine Zigarette war mittlerweile im Aschenbecher zusammengeschrumpft.
„Ich meine, wieso tun Menschen anderen Menschen Gutes?“, fragte Maria erneut. Ihr Bier war bereits leer. Sie gab Sophie, die heute hinter dem Tresen stand, ein Zeichen.
„Wieso tun Menschen überhaupt etwas?“, fragte Josef und zündete sich eine neue Zigarette an. „Wenn es nach mir ginge, könnten wir ruhig den ganzen Tag, jeder schön für sich, in unserer jeweiligen Wohnung vor uns hin versumpfen.“
„Jetzt hör auf, mich zu verarschen“, entrüstete sich Maria. „Ich weiß auch nicht, wo der Gedanke auf einmal herkam.“
Josef trank sein Bier aus und winkte ebenfalls zu Sophie, die bereits ein neues für Maria gezapft hatte.
„Okay, dann denken wir mal für einen kurzen Moment über deine hochphilosophische Frage nach.“
Er tat so, als müsste er angestrengt grübeln. Dazu kratzte er sich mit der Hand, die jetzt eine neue Zigarette hielt, am Haaransatz. Weiße Asche regnete leise auf seine Schultern.
„Wer sagt denn überhaupt, dass das so ist?“ Josef schien jetzt Gefallen daran gefunden zu haben, mit Maria über was anderes als die letzte Folge von „Berlin Tag und Nacht“ zu reden. „Wer bestimmt denn überhaupt, was gut ist und was nicht?“ Er zog an seiner Zigarette und Maria wollte schon antworten, doch Josef ließ sie nicht. „Was ich als gut ansehe, muss Sophie noch lange nicht gut finden. Wenn ich zum Beispiel Peter einen Schnaps ausgeben will, weil ich ja ein so guter Mensch bin, dann wird Sophie sich mit Sicherheit weigern, weil sie weiß, wie viele Peter schon intus hat und wie nah er an einer weiteren Alkoholvergiftung mit Krankenhausaufenthalt ist.“
Josef schwieg jetzt und sah Maria auffordernd an. Wie ein kleines Kind, das von seinem Vater hören möchte, wie hübsch das neuste Bild geworden ist, das es mit der Tante im Kindergarten gemalt hat. Maria schwieg ebenfalls. Sie sah ihrem Bierschaum beim Zerfallen zu. Als fast kein Schaum mehr da war, trank sie einen großen Schluck. Schließlich drehte sie sich um und sagte: „Es gibt aber doch Sachen, die sind immer gut. Wenn ich zum Beispiel jemandem mein Parkticket schenke, weil ich nicht so lange parken musste. Dann habe ich doch etwas Gutes getan.“ Sie fischte einen Moment nach dem Gedanken, der ihr im Kopf herumschwirrte. „Wieso? Warum tue ich sowas? Es hat für mich absolut keinen Nutzen.“
„Hm“, machte Josef. Und „Aha.“ Schließlich brachte er doch noch einen ganzen Satz heraus. „Glaubst du an Karma?“
„Wie bitte?“
„Ich mein ja nur. Es gibt Leute, die daran glauben, dass man so behandelt wird, wie man die anderen behandelt. Entweder jetzt, oder in einem nächsten Leben.“
Maria schüttelte den Kopf.
„Ne, an so einen Scheiß glaub ich nicht. Wenn’s vorbei ist, ist’s vorbei.“
„Das schon“, pflichtete Josef ihr bei, „aber glaubst du nicht manchmal, dass sich irgendwer – das Schicksal oder Gott oder das Universum – merkt, was du tust und dir das irgendwie in Rechnung stellt?“
Maria schüttelte den Kopf. „Nach allem, was ich weiß, sind wir hier verdammt allein. Kein Gott, kein Schicksal und keine scheiß Kräfte des Universums.“
Sophie brachte zwei neue Biere. Sie stellte sie ab und machte die Striche auf die Deckel.
„Entschuldigung, ich wollte euch bestimmt nicht belauschen, aber darf ich sagen, was meine Großmutter mir immer zu dem Thema gesagt hat?“
„Klar!“, sagte Josef, der sein neues Bier bereits zu einem Drittel geleert hatte. „Nur raus damit!“
„Sie hat immer gesagt: ‚Was lange währt, wird endlich gut.‘“
„Toll. Und was soll mir das jetzt sagen?“, blaffte Maria.
„Es kann doch so sein, wie Joe gesagt hat. Man tut gute Dinge im Leben, weil man darauf hofft, dass einem Andere auch mal gute Dinge tun. Und manchmal hat man vielleicht eine Durststrecke. So ähnlich wie ein ganzer Abend ohne Trinkgeld. Und trotzdem ist man nur am Lächeln und ist höflich zu allen Gästen.“
Marie wurde ein bisschen beschämt, da sie noch nie Trinkgeld gegeben hatte.
„Aber dann kommt irgendwann der Gast, der sein Bier mit einem Zehner bezahlt und nur sagt ‚Stimmt so.‘ Und dann weiß man, wieso man den ganzen Abend über so freundlich war.“
„Sag ich ja“, sagte Josef und trank sein Bier aus.

Ende

All der Erfolg, der Neid und die verdammte Glückseligkeit

Mal wieder hat mit der liebe Lutz einen Titel vorgegeben. Mal wieder ist eine bescheuerte Geschichte dabei rausgekommen. Wie immer bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich mich immer an die korrekte Zeitform gehalten habe. Mir gefällt sie dennoch.

Silvia spürt regelrecht, wie sich kleine rote Flecke in ihrem Gesicht bilden. Die Wärme, die sich auf ihren Wangen ausbreitet, das leichte Jucken an ihren Ohren und nicht zuletzt ihr krampfhafter Biss sind untrügliche Zeichen dafür, dass es mal wieder soweit ist. Und an all dem ist niemand Geringeres Schuld als ihre Kollegin Monika, die wie jeden gottverdammten Montagmorgen mit einem breiten Grinsen in der Visage, laut „GUTEN MORGEN!“ schreiend, das gemeinsame Büro betritt.
„Ah, ist das ein herrlicher Morgen. So ein tolles Wetter. Und diese klare Luft. Herrlich!“, sagt Monika und Silvia fragt sich, wie jedes Mal, ob sie mit dem Stuhl, ihrem Computer oder der Wand spricht. Jedenfalls nicht mit ihr. Silvie hängt die permanente Glückseligkeit ihrer Kollegin schon lange mächtig zum Hals raus.
„Nun, wir haben ja Gott sei Dank eine Garage. Du musstest ja bestimmt heute Morgen schon kratzen, nicht wahr?“
Die ganze verdammte letzte Woche, aber das müsste sie Monika aus dem Lummerland bestimmt nicht auf die Nase binden.
„Ich war eben noch beim Bäcker und habe uns ein paar Croissants besorgt. Die können wir nachher verputzen, wenn wir die Übergabe machen“, sagt Monika und Silvia findet es langsam, aber sicher merkwürdig, dass ihre Zornesflecken noch gänzlich unentdeckt geblieben sind. Jetzt treten auch noch ihre Adern hervor. Sie kommt sich vor, wie der alte Schnellkochtopf ihrer Großmutter, der einmal beim Marmeladeeinkochen geplatzt war. Das war die größte und zugleich leckerste Sauerei ihres damals noch jungen Lebens gewesen. War es nicht oft so, dass schreckliche Situationen auch etwas Schönes hatten? Es bleibt weiterhin abzuwarten, welche guten Seiten die Zusammenarbeit mit Monika hat.
„Wie wäre es, wenn ich dir gleich alles zeige, dann kann ich dir auch gleich von unserem tollen Urlaub erzählen. Ich freue mich ja schon so sehr.“
Mal davon abgesehen, dass Silvia all die Hochglanzwerbebilder von Monikas Südseehotel bestimmt schon dreimal gesehen hat, war es da wieder. Dieses eine Wort. All diese „uns“ und „wir“ und „gemeinsam“. Dann soll sie sich doch mit ihrem Schatzilein auf irgendeinem Südseestrand verbuddeln und an dem verdammten Sand ersticken. Viel Sand würde sie bei ihrer Bikinifigur ja ohnehin nicht benötigen.
„Es wird bestimmt so wahnsinnig schön.“
Silvia, die soeben beschlossen hat, dass es jetzt endlich reicht, nimmt einen der Croissants. Natürlich sind es mal wieder die Ökovollkorndinger, die kein Mensch isst, außer dieser immerfröhliche Hungerhaken und sein Schatzilein. Silvia isst ihn trotzdem.
Dann zieht sie Monika in den Papierkorb, rechtsklickt ihn und wählt „Papierkorb leeren“. Wie von Geisterhand verschwindet die Zornesröte aus ihrem Gesicht und ihre Adern schwellen ab.
Die Tür geht auf und ihr Chef kommt reingestürmt.
„Wo ist denn Frau Zabel?“
„In der Südsee. Mit ihrem Schatzilein.“

Ende

Der Apache

Zu der folgenden Geschichte muss ich zwei Anmerkungen machen: Der Titel wurde mir von Lutz vorgegeben. Außerdem ist der erste Satz der Geschichte ganz eindeutig eine Hommage an Karl Mays „Winnetou Teil 1“. Viel Spaß beim Lesen.

Immer fällt mir, wenn ich ans Basteln denke, die Marmelade ein. Wie das sein kann, fragen Sie sich? Es liegt an der Art, wie ich bastle und wie ich Marmelade koche. Denn bei beidem gehe ich besonders gewissenhaft vor. Anders als meine Frau, die sich, wenn sie Marmelade kocht, mit einem Pürierstab durch die roten Beeren pflügt als gäbe es kein Morgen, kümmere ich mich um jede einzelne Beere, als hätte ich nur diese eine auf dem Feld gesammelt. Mit voller Hingabe zerdrücke ich sie langsam mit dem Löffel, bis schließlich ihre dünne Haut aufplatzt und der rote Saft hervorquillt. Dann greife ich zur nächsten Beere. Natürlich schaffe ich bei solch einer Vorgehensweise höchstens ein Glas pro Tag, doch schmeckt die Marmelade, dank all der Mühen, tausendfach besser.
Nach derselben Methode gehe ich vor, wenn ich bastle. Was hatte ich eine Freude beim Zusammensetzen all der Helikopter, Panzer und Flugzeugträger, die jetzt aufgereiht auf dem gläsernen Regal stehen. Unbezahlbar ist die Ruhe, die ich – unten in meinem Kellerraum – empfinde, wenn ich ein neues Model zusammensetze. Stück für Stück. Jeden Tag klebe ich nur ein einziges Bauteil an, so sehr habe ich mich diszipliniert. Doch dieses eine Bauteil muss perfekt sitzen, weshalb ich mich besonders stark konzentrieren muss.
Heute stehe ich – leicht vorübergebeugt – vor dem Apache AH 64 und halte das vorletzte Bauteil – die Heckrotoren – in der Hand. Bald schon würde er sich zu seinen Brüdern – dem Comanche, dem Eurofighter und all den anderen – gesellen. Nur noch zwei Teile sind anzubringen.
Vorsichtig bestreiche ich die Enden der Rotorblätter mit dem teuren Klebstoff. Das Teil muss perfekt sitzen. Perfekt. Mit ruhigen Fingern setze ich es exakt an seine Position und halte es kurz fest, bis der Kleber getrocknet ist, als plötzlich das Telefon klingelt und mich aus meiner konzentrierten Anspannung reißt.
Ich schrecke hoch und stoße mit dem Kopf an die Deckenlampe. Ich strauchle, drohe vornüber zu fallen und stütze mich irritiert mit der Hand auf dem Tisch ab.
Es knackst laut, als ich den Apache mit meinem Gewicht zertrümmere. Ich spüre einen Stich in meinem Herzen, als hätte ein Unbekannter mir von hinten ein Fleischermesser durch die Brust gerammt. Mein Hirn will explodieren, meine Seele zerreißt.
Schwer atmend richte ich mich auf und betrachte, was ich angerichtet habe: Der Hubschrauber – und damit die Arbeit von mehr als zwei Monaten – ist hinüber. Und das alles nur wegen eines dämlichen Anrufs, um den sich ohnehin in wenigen Augenblicken der Anrufbeantworter kümmern würde. Durch einen Tränenvorhang sehe ich zu dem letzten Bauteil. Die Rotorblätter, die ich morgen angebracht hätte, liegen neben der Pappschachtel mit dem Bild des Apaches bereit. Mit zittrigen Fingern greife ich nach ihnen, breche sie in der Mitte durch und werfe sie in den Papierkorb. Der Apache folgt ihnen.
Morgen werde ich – einen Tag früher als geplant – mit dem Bau des Leopardpanzers beginnen. Bis dahin, sollte ich mich etwas sammeln, um die nötige Konzentration aufbringen zu können. Vielleicht gönne ich mir ein Marmeladenbrot. Der rote Brei wird mir guttun. Oh, dieser schöne rote Brei.

Ende

Gastbeitrag „Körzdörfers Kratzen“

Der gute Lutz war so freundlich und hat mir eine Geschichte geschenkt. Hier ist sie.

Körzdörfers Leben kratzte ihn. Und wer ist schon ganz zufrieden, wenn ihn andauernd etwas kratzt? Richtig: Niemand. Aber Körzdörfer war jetzt auch nicht der Mensch, der es sich zur Aufgabe machte, sein Leben irgendwie annehmlicher zu gestalten. Körzdörfer war Naturwissenschaftler durch und durch. Der Versuchsaufbau durfte nicht aufgrund subjektiver Befindlichkeiten verändert werden. Vielleicht war Thales allem Runden abgeneigt gewesen. Was wäre gewesen, hätte er nie seinen berühmten Satz gesagt? Richtig: Die Geometrie steckte immer noch in den Kinderschuhen. Nein, es führte zu nichts, sich von seinen Gefühlsduseleien leiten zu lassen.

Einmal hatte Körzdörfer es dennoch versucht und ein paar Verse geschrieben. Schmierige Verse, von Pathos triefend. Sie hatten von Liebe, dem Mond und der Eulerschen Zahl gehandelt. Körzdörfer war stolz auf sie gewesen und zum ersten Mal hatte er das Kratzen fast nicht mehr gespürt. Er hatte sie einem Freund gezeigt, der sie lobte. Er hatte sie Kollegen vorgelesen, die ihn bewunderten. Schließlich gab er sie seinem Vater. Dieser lächelte und sprach vom Wetter. Es war sicher kein ungerührtes vom Wetter Sprechen, aber es war eben auch nicht mehr.

An diesem Abend konnte Körzdörfer wieder nicht einschlafen, so sehr kratzte es ihn. Und das Kratzen war längst nicht mehr nur äußerlich, nein, sein Hals kratzte auch.

Körzdörfer unternahm einen letzten verzweifelten Versuch mit dem Kratzen klarzukommen. Er untersuchte es wissenschaftlich. Er erhob weltweit Daten, sammelte sie und wertete sie aus. Er erforschte das Kratzen von innen. Zerlegte es in all seine Bestandteile. Bald schon stieß Körzdörfer auf scheinbar unüberwindliche Grenzen des wissenschaftlich Aussagbaren. Aber er ließ sich nicht aufhalten, sondern erweiterte unaufhörlich das ihn umgebende Team. Sie waren multiprofessionell, überkonfessionell und manche von ihnen drogenabhängig oder schizophren. Aber all das tat der wissenschaftlichen Erforschung des Kratzens keinen Abbruch, sondern ganz im Gegenteil: Körzdörfer und sein Team eilten von Erkenntnisgewinn zu Erkenntnisgewinn. Und längst waren die Forschungsergebnisse nicht mehr auf das schmale Gebiet des Kratzens beschränkt. Die Atomphysik, die naturwissenschaftliche Erforschung des Stolperns und der Kreisligafußball im Schweizer Kanton Appenzell-Innerrhoden profitierten ungemein von allem, was Körzdörfer und sein Team an Erkenntnissen zutage förderten.

Körzdörfer starb in hohem Alter zufrieden, glücklich und ausgesöhnt mit seinem Kratzen. Er hatte sein Leben der Wissenschaft gegeben, vielen Menschen geholfen und niemandem geschadet. Ihm verdanken wir die beiden Sätze übers Kratzen, die auch nach heutigem Wissensstand noch nichts an Aktualität eingebüßt haben. So bleibt mir, als einem der dem zweiten Satz übers Kratzen vielleicht nicht weniger als sein Leben verdankt, in aller Schlichtheit nur eines zu sagen: Danke, Körzdörfer!

© 2024 David schreibt

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