Have a break, write a book

Autor: David (Seite 5 von 5)

Goethe auf dem Pott

Jeder Mensch hat andere hochwertige Literatur auf der Toilette liegen. Bei den meisten dürften dies ausrangierte Zeitungen sein. Neulich fand ich mich auf einem Lokus wieder, auf dem Goethes Faust auslag. Dieser Umstand inspirierte mich zu folgendem Gedicht:

Meister Goethe tobt, er schreit und schon
Hätt‘ er am liebsten euch erschlagen
Mit seines Zauberlehrlings Besen

Dann fragt er nach mit tiefem Ton:
„Ich bitte euch, wie könnt ihr’s wagen
Den Faust beim Scheißen durchzulesen?“

Der Beinahepodcast (vielleicht Teil 1)

Vergangenes Jahr habe ich versucht, jeden Monat einen Podcast zu erstellen. Ich habe nachgezählt: Es hat nicht ganz geklappt. Auf meiner Festplatte schlummern noch ein paar Dokumente (eher Fragmente), die ich ursprünglich für diesen Podcast einsprechen wollte. Der folgende Text entstammt einer Episode mit dem Titel „Filme, die einen Kloß im Hals erzeugen“. Aber lesen Sie selbst!

In dem Film „Am Sonntag bist du tot“ spielt Brendan Gleeson einen katholischen Priester, der irgendwo an der irischen Küste seine kleine Gemeinde hat. Er kennt alle seine Schäfchen und kümmert sich hingebungsvoll um sie. Der Film beginnt jedoch nicht idyllisch – was daran liegen könnte, dass es sich (wie wir schnell erfahren) nur um eine scheinbare Idylle handelt – sondern mit einer Verhängnisvollen Beichte. Ein, zu diesem Zeitpunkt des Films noch unbekannter, Mann erzählt dem Priester, dass er als Kind von einem anderen – inzwischen verstorbenen – Priester vergewaltigt wurde… jeden zweiten Tag! Pfarrer Lavelle – wie Gleesons Charakter heißt – kann zunächst nichts erwidern. Als er versucht, auf den beichtenden einzugehen, eröffnet dieser, dass er plant, Lavelle am kommenden Sonntag am Strand zu erschießen.

Lavelle steckt in der Klemme: Er hat den Mann zwar an der Stimme erkannt, darf ihn aber aufgrund des Beichtgeheimnisses nicht bei der Polizei anzeigen. Sein Vorgesetzter sieht noch die Möglichkeit, das Beichtgeheimnis zu umgehen, doch Lavelle hat andere Pläne. Er fühlt sich seiner Gemeinde und vor allem seiner Tochter verpflichtet. Diese hat kurz zuvor einen Suizidversuch überlebt und will sich nun ein paar Tage bei ihrem Vater erholen.

Der Film begleitet Lavelle während seiner letzten sieben Tage. Dabei lernt der Zuschauer die illustre Gemeine kennen: Der Metzger, der seine Ehefrau schlägt; die Ehefrau, die ihren Mann, den Metzger, mit dem Automechaniker betrügt; den atheistischen Arzt, der voller Zynismus eine Zigarette in einem Spenderherzen ausdrückt; den schwulen Polizeikommissar, der eine Beziehung mit dem Prostituierten Leo hat; den reichen Banker, der seine Anleger betrogen hat und so zu unermesslichem Reichtum gekommen ist. Die Liste der kaputten Menschen ist lang. Aber alle Charaktere des Films sind zutiefst menschlich – eben weil sie so kaputt sind.

Über der Geschichte hängt jedoch noch drohend der Kindesmissbrauch der in der Katholischen Kirche stattgefunden hat. Hierfür will der Film keine Lösung bieten, wohl aber für das Thema dieses Podcasts: Kurz vor seinem Tod, telefoniert Lavelle mit seiner Tochter. Dabei kommen sie auf Sünden und Tugenden zu sprechen. Laut Lavelle wäre die Welt eine bessere, wenn man nicht mehr so oft über Schuld und Sünde spreche, sondern wieder mehr über Tugenden. Und als Tugend Nummer eins nennt er die „Vergebung“. Dass seine Tochter das begriffen hat, sieht man, wenn sie in der letzten Szene des Films im Gefängnis mit dem verurteilten Mörder ihres Vaters spricht.

Was mich an diesem Film so fasziniert hat, ist, dass er es geschafft hat, dass ich mir im Kino für den Bruchteil einer Sekunde gewünscht habe, der als Kind misshandelte – zu diesem Zeitpunkt noch zukünftige – Mörder möge sich mit seiner Waffe selbst erschießen. Nach diesem Bruchteil einer Sekunde habe ich mich unglaublich schlecht gefühlt.

Totgeburt

Daniel wagt es nicht, in den Rückspiegel zu schauen. Aus Furcht vor dem, was er dort sehen könnte, oder auch nicht sehen würde, starrt er wie gebannt auf die Straße vor ihm. Die Mittelstreifen verschwimmen zu einer durchgängigen Linie und es kostet Daniel von Minute zu Minute mehr Kraft, nicht doch einmal einen Blick zur Seite oder gar nach hinten zu werfen. Nicht jetzt.

Vor etwa einer halben Stunde, als die Welt noch in Ordnung war, hat er die Nachricht seiner Frau erhalten, die Wehen hätten eingesetzt. Daniel war gerade in seinem Büro gewesen, hatte alles stehen und liegen gelassen und war in die Tiefgarage zu seinem Benz geeilt. Eine Minute später war seine Kollegin Michaela, die gerade vor dem Gebäude eine Zigarette rauchte, zu Staub zerfallen. Daniel bemerkte das erst auf den zweiten Blick, den er nach links warf, um zu sehen, ob die Fahrbahn frei wäre.

Sein Herz setzte aus. Wieso ausgerechnet jetzt, wo er doch all die Jahre Ruhe gehalten hat? Unter großer Anstrengung wischte er den Gedanken an seine Kollegin und wen es sonst noch erwischt haben mochte zur Seite und trat das Gaspedal durch.

Das erste Mal hatte ihn der Tod – oder wie er es nannte: der Verfall aller Dinge – in seiner Jugendzeit besucht. Zumindest konnte er sich an keine frühere Begegnung erinnern. Daniel war gerade durch den Wald gejoggt – angetrieben von dem athletischen Aussehen seiner Mitschüler – als er hinter sich ein Rascheln vernahm. Er zuckte leicht zusammen, während seine letzten Gedanken an seine Klassenkameradin Kira ins Nirwana flogen, und drehte sich um.

Er vermutete, dass ein solches Rascheln meist von einem kleinen Tier – etwa einem umherhüpfenden Vogel – verursacht wurde, doch an diesem Tag entsprach nichts dem, was man Normalität nennen mochte. Die Quelle des Geräuschs war tatsächlich ein kleiner Vogel gewesen. Jedoch war dieser Vogel nicht durchs Laub gehüpft, sondern tot vom Himmel gefallen.

Daniel bückte sich nach dem kleinen Geschöpf. Er hob einen Zweig auf, um den Vogel damit auf die andere Seite zu drehen. Doch, als er das Tier berührte, gab das Gefieder nach und der kurze Ast stieß durch bis auf den trockenen Waldboden. Im Vogel klaffte ein Loch, wie von einer Gewehrkugel, als hätte ihn jemand vom  Himmel geschossen. Jedoch waren die Ränder dieser Wunde nicht ausgefranst und Blut konnte Daniel auch keines sehen. Es sah vielmehr so aus, als sei der Vogel durch die Berührung des Astes zu Staub zerfallen.

Aus Angst, er könne sich durch den Kadaver mit irgendwelchen dubiosen Krankheiten infizieren, ließ er den Vogel achtlos liegen und lief weiter. Am Ende seiner Laufstrecke blieb Daniel atemlos stehen und dehnte seine Beinmuskulatur. Als er sich umdrehte, um den Weg, den er gekommen war zurückzulaufen, sah er den Schmetterling.

Der Falter saß auf einem Grashalm und schlug mit den Flügeln. Mit einem Mal klappte sein linker Flügel nach unten, während der rechte sich weiter auf und ab hob. Daniel sah das Insekt genauer an. Dabei bemerkte er einen feinen Riss, der sich durch den Falter zog, wie ein Riss in der Tapete. Entlang dieser dünnen Linie schien alles Leben aus dem Tier gewichen zu sein. Der linke Flügel wirkte irgendwie farbloser und der Fühler auf der linken Seite war kurz oberhalb des Kopfes abgeknickt, wie ein Grashalm, der dem starken Wind nicht gewachsen war.

Vorsichtig griff Daniel nach dem Schmetterling und berührte dessen linken Flügel. Er spürte, wie der Flügel in sich zusammenfiel, wie die Asche eines verbrannten Blatt Papiers. (Daniel hatte einmal eine Mathearbeit verbrannt, die er unmöglich seinen Eltern zeigen konnte.) Der Falter kam, jetzt, da ihm ein Flügel fehlte, aus dem Gleichgewicht und kippte nach rechts.

Auf seinem Weg zurück bemerkte Daniel noch weitere Veränderungen in der Natur. Einige Bäume hatten ihre Blätter verloren. Drei Bäume waren gar ganz umgestürzt. Es schien, als habe eine schreckliche Macht das Leben aus allem gesogen. Erst nach etwas mehr als einem Kilometer ließen diese Veränderungen nach. Hier blühten wieder alle Bäume und die Tiere huschten durchs Gestrüpp. Daniel blieb stehen und blickte über die Schulter zurück. Der Anblick, der sich ihm bot, nahm ihm den Atem.

Links und rechts des Weges türmten sich herabgefallene Äste, der Waldboden war übersäht mit verfaulten Blättern und genau in dem Moment, als Daniel sich umdrehte, stürzten drei weitere Vögel leblos vom Himmel.

Nur mit Mühe konnte Daniel sich aus seiner Erstarrung lösen. Als es ihm gelang, drehte er sich um und rannte so schnell er konnte zurück zu seinem Fahrrad, das er am Waldrand an einen Baum gekettet hatte.

Daniel lenkt den Benz über die Bundesstraße. Die nächste Ausfahrt ist seine. Er setzt den Blinker und fährt, ohne in den Spiegel zu sehen, auf den Verzögerungsstreifen. Vor ihm kriecht ein alter Golf über die Fahrbahn. Daniel tritt auf die Bremse. Dann wirft er einen kurzen Blick auf das Display seines Smartphones. Susanne hat ihm keine weitere Nachricht geschickt. Er weiß nicht, ob er das gut oder schlecht finden soll. Gedankenverloren legt er sein Mobiltelefon auf den Beifahrersitz. Als er seinen Blick wieder auf die Straße wirft, streift er kurz den Innenspiegel. Das Blut gefriert in seinen Adern.

Hinter ihm fällt ein verrosteter alter Laternenpfahl in sich zusammen, die Straße ist brüchig und dort wo einige Büsche am Straßenrand gestanden haben, klafft ein Loch in der Realität, wie ein Loch in einer Mauer, auf die jemand mit einem schweren Hammer eingeschlagen hat. Daniel kann seinen Blick nur schwer vom Spiegel losreisen. Seine Schläfen pochen. Großer Gott, hinter dem Loch war nichts. Keine Wirklichkeit!

Daniel war einige Tage später noch einmal in den Wald zurückgekehrt. Die Natur hatte sich wieder etwas erholt. Das Forstamt hatte die umgestürzten Bäume an den Wegesrand geschafft. Daniel suchte den Waldboden konzentriert ab, konnte jedoch keinen Vogelkadaver finden. „Im Wald bleibt nichts liegen“, hatte sein Biolehrer immer gesagt. Daniel war sich nicht sicher, ob das Verschwinden der toten Vögel auf die anderen Tiere zurückzuführen war. Er glaubte vielmehr, dass sie einfach zu Asche zerfallen waren. Als er die Stelle erreichte, an der er einige Tage zuvor umgekehrt war, blieb er stehen. Er wagte es nicht, sich umzudrehen. Langsam schloss er seine Augen, atmete tief ein und wieder aus und dreht sich dann um. Als er seine Augen wieder öffnete, bot sich ihm das gewohnte Bild. Die Blätter hingen alle noch an den Bäumen, die Vögel flogen weiterhin durch die Luft oder hüpften über den Boden und die Insekten schwirrten umher. Dennoch spürte Daniel ein Gefühl der Beklemmung. Er wusste nur nicht, wieso. Erst, als er spät in der Nacht in seinem Bett lag, wurde ihm klar, woher dieses Gefühl gekommen war: Er hatte nichts gehört. Der Wald war vollkommen still gewesen.

Der Verfall aller Dinge war ihm nur noch zweimal über den Weg gelaufen. In keinem der Fälle hatte Daniel ihn kommen sehen. Er kam unangekündigt, wie die Zeugen Jehovas oder ein Landstreicher, der an der Tür klingelte und nach etwas Geld fragte.

Das zweite Mal trafen sie aufeinander, als Daniel kurz vor seiner letzten Abiturprüfung stand. Er war nach dem Unterricht etwas länger in der Schule geblieben, um in der Bibliothek noch etwas zu recherchieren. Nach einer Stunde bekam er so starke Kopfschmerzen, dass er beschloss, das Lernen für diesen Tag einzustellen. Er nahm die geliehenen Bücher und trug sie zurück zu den entsprechenden Regalen.

Schon von weitem konnte er sehen, dass die anderen Bücher, die sich in dem Regal befanden, alt und verrottet waren. Die Einbände waren schimmlig geworden, die Farbe blätterte ab und das Papier war brüchig und vergilbt. Daniel wusste sich nicht anders zu helfen, als seine drei Bücher in das Regal zu legen und die Bibliothek durch den Hinterausgang zu verlassen. Er war direkt zur Bushaltestelle gegangen und nachhause gefahren. Seitdem hatte er nie wieder einen Fuß in die Bibliothek gesetzt.

Ihre dritte und bisher letzte Begegnung hatten Daniel und der Tod vor etwas über drei Jahren während eines Theaterbesuchs. Daniel war in der Pause auf die Toilette gegangen. Als er sich die Hände wusch und währenddessen im Spiegel betrachtete, fiel sein Blick auf den Mann, der gerade eben aus der Kabine kam. Er hatte langes, weißes Haar, dass ihm ungekämmt ins Gesicht hing und gelbe, lange, brüchige Fingernägel, die an mehreren Stellen eingerissen waren. Das erschreckendste war jedoch seine Haut. In seinem Gesicht hatten sich Blasen gebildet und von seiner Stirn hing ein großer Lappen blauer Haut herab. In der dort entstandenen Lücke klaffte das Nichts.

Daniel erbrach sich ins Waschbecken und verließ das Theater ohne, sich noch einmal umzudrehen. Erst als er draußen war, schrieb der Susanne eine SMS. Dann wartete er vor dem Eingang, den Blick auf die Tür gerichtet. Er wollte seiner Frau ins Gesicht sehen, wenn sie die Treppe herunterkam. Er wollte auf keinen Fall hinter sich blicken. Und auf keinen Fall würde er jemals wieder leichtsinnig in einen Spiegel schauen.

Daniel erreicht sein Haus eine halbe Stunde, nachdem er sein Büro verlassen hat. Er lässt den Wagen in der Einfahrt stehen und rennt, ohne noch einmal hinter sich zu sehen, den kurzen Weg zur Haustür hinauf. Vor der Tür fällt ihm der Schlüssel aus der Hand, so schweißnass sind seine Finger. Er hebt ihn auf und öffnet die Tür. Dann tritt er ein. Er weiß, dass Susanne oben im Schlafzimmer liegen wird (der Arzt hat ihr Bettruhe verordnet), trotzdem ruft er nach ihr. Ihre Stimme gibt ihm recht. Er eilt die Treppe nach oben, bleibt jedoch auf halber Strecke stehen. Mit pochendem Herzen dreht er sich um und rennt runter in die Küche, um eine Schere zu holen.

Als er wieder die Treppe hochläuft, sieht er die feinen Risse in der Tapete und die Wurmlöcher im Treppengeländer. Er ist da. Der Verfall aller Dinge.

Daniel öffnet die Schlafzimmertür und schließt sie sofort wieder, als er den Raum betreten hat. Er schließt sie, ohne sich umzudrehen. Er wagt es nicht, seiner Frau den Rücken zuzudrehen. Nicht jetzt. An ihrem Gesichtsausdruck versucht er abzulesen, ob ihr die vermoderte Tapete im Flur aufgefallen ist. Sie blickt ihn völlig normal an.

„Da bist du ja endlich.“

„Es tut mir leid, aber vor mir fuhr eine alte Oma ihren klapprigen Golf spazieren.“

„Fahr mich bitte ins Krankenhaus.“

Daniel hat damit gerechnet, dass Susanne das verlangen wird. Er schüttelt den Kopf. „Das geht nicht.“

„Wieso?“

Weil er wieder da ist. Daniel schweigt zunächst. Dann legt er die Schere auf das Bett. „Wir erledigen das selbst.“

„Ich will keine Hausgeburt!“ Susanne sieht in Daniels Augen, dass er nicht bereit ist, von seinem Vorhaben abzurücken. „Ruf wenigstens Maria an.“ Daniel überlegt einen Moment, ob er es riskieren kann, die Hebamme hinzuzuziehen, dann schüttelt er langsam den Kopf.

„Es geht nicht. Es tut mir so leid.“

Irgendwas an seinem Blick macht Susanne Angst. Sie kann es nicht genau ausmachen, doch sie weiß, dass sie sich zurecht fürchtet. Sie weiß, dass sie sich vor allem um ihre Tochter sorgen machen muss.

Daniel umrundet das Bett. Dabei ist sein Blick fest auf Susanne fixiert. Er geht rückwärts in das kleine Badezimmer und holt einige Handtücher. Dann steht er etwas ratlos im Schlafzimmer. Schließlich fragt er: „Wie häufig kommen die Wehen?“

„Etwa alle fünf Minuten. Es verwundert mich, dass du bisher noch keine mitbekommen hast.“ Kaum hat sie es ausgesprochen, als auch schon die nächste Wehe einsetzt. „Würdest du jetzt bitte Maria anrufen und herbitten?“ Es ist mehr eine Aufforderung als eine Frage. Daniel denkt fieberhaft nach. Schließlich zieht er sein Smartphone aus seiner Tasche. Er entsperrt es und blickt auf das Display. In der Scheibe spiegelt sich die Gardine hinter ihm. Augenblicklich zerfällt sie zu Staub. Susanne schreit laut auf.

„Ich kann sie nicht anrufen. Die Welt würde zerfallen. Verstehst du das denn nicht?“ Daniel sieht dem Gesicht seiner Frau an, dass sie nichts versteht. Aber da ist noch etwas in ihrem Blick. Durch die Verzweiflung hindurch scheint etwas, das Daniel für Vertrauen hält. „Wir werden das auch ohne Marie schaffen.“ Er nimmt Susannes Hand und drückt sie fest. Susanne nickt. Dann fängt sie an zu schreien.

„Es geht los!“

Und es geht los. Susanne drückt immer fester Daniels Hand. Das Smartphone liegt mittlerweile achtlos auf dem Fußboden. Etwas knackst in Daniels Hand. Susanne atmet jetzt immer hektischer. Daniel versucht sich an die Dinge zu erinnern, die sie gemeinsam mit der Hebamme besprochen haben. Verzweifelt versucht er, seine Hand aus Susannes festem Griff zu lösen. Als ihm das nicht gelingt, geht er in die Knie und streicht mit der freien Hand sanft über Susannes Kopf. Sie entspannt sich ein wenig, ohne jedoch den Griff um Daniels Hand zu lockern. Ihre Atmung ist jetzt kontrollierter.

Auf einmal kann sich Daniel doch an etwas aus den Vorbereitungskursen erinnern: Eine Geburt kann zwischen acht und fünfzehn Stunden dauern. Er versucht noch ein letztes Mal, sich aus dem Griff seiner Frau zu befreien. Schließlich gibt er auf und denkt nur noch, dass es ja auch irgendwie fair ist, dass er ebenfalls Schmerzen ertragen muss.

Keine fünf Stunden später legt Daniel die Schere weg, mit der er zuvor die Nabelschnur durchtrennt hat. Seine Tochter weint lauthals, was Daniel zunächst besorgt registriert, bis er sich daran erinnert, dass es sich nur um ein Zeichen dafür handelt, dass das Baby Luft bekommt.

Susanne liegt völlig erschöpft in ihrem Bett. Das Bettzeug ist blutverschmiert. Daniel lächelt seiner Frau zu während er seine Tochter im Arm wiegt. Er ist so fasziniert von dem kleinen Geschöpf in seinen Händen, dass er sich gedankenverloren im Kreis dreht. Als er seine Frau das nächste Mal sieht, ist sie allem Anschein nach tausend Jahre alt. Daniel lässt vor Schreck beinahe seine Tochter fallen. Er stürzt auf das Bett zu. Das Holzgestell ist überall morsch, die Blutlache auf dem Laken ist völlig vertrocknet. Das Bettzeug ist zu Staub zerfallen. Susannes Haut ist nahezu an jeder Stelle ihres Körpers abgefallen und liegt wie feine Asche neben dem schwarzen Skelet. Ihre Haare sind grau.

Daniel schießen die Tränen in die Augen. Als er anfängt laut und ohne Scham zu weinen, beginnt auch seine Tochter in seinen Armen zu schreien. Er drückt sie jetzt fester an sich und wiegt sie hektisch hin und her, wodurch sie nur noch lauter weint. Daniel steht hilflos inmitten eines toten Schlafzimmers und weint, bis seine Tränen versiegen, schreit lautlos in die Nacht, bis seine Kehle vertrocknet.

Daniel hat aufgehört zu weinen. Er ist mit Susanna – er hat es nicht übers Herz gebracht, seiner Tochter den Namen ihrer Mutter zu geben – nach unten ins Wohnzimmer gegangen. Die Treppenstufen haben unter seinem Gewicht leicht nachgegeben. Die Tapete im Flur und auf der Treppe ist mittlerweile in ihre Bestandteile zerfallen und hängt ausgebleicht lose an der Wand.

Susanna liegt jetzt auf einer Wolldecke auf dem Fußboden und spielt vergnügt mit einem kleinen Plastikball, den sie immer wieder fallen lässt. Daniel hebt ihn jedes Mal auf und reicht ihn ihr. Susanna nimmt ihn unbeholfen in ihre kleinen Hände und quietscht fröhlich, als sie ihn ein weiteres Mal wegwirft. Reflexartig dreht Daniel sich nach dem Ball um, der unter den Klavierhocker rollt und erstarrt mitten in der Bewegung. Sein Herz hört auf zu schlagen und in seinem Hals bildet sich ein Kloß, der ihm den Atem nimmt. Daniels Lippen zittern unkontrolliert. Angespannt horcht er in die Stille, doch da ist nichts. Kein Ticken einer Uhr, kein Atemgeräusch seiner Tochter. Wäre doch wenigstens das Rascheln eines herumhüpfenden Vogels zu hören. Daniel fegt diesen Gedanken zur Seite.

Plötzlich hört er doch etwas. Ein leiser Atemzug seiner Tochter. Daniel fallen ganze Gebirge vom Herzen. Dann beginnt Susanna qualvoll zu schreien.

Where the story happens

Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich meinen Kurzkrimi „ESAV EID – Die Vase“ für den Krimiwettbewerb des Krimifestivals in Gießen geschrieben. Einer der beiden zentralen Grundgedanken war, dass die Geschichte an nur einem Ort spielt (was ich zugegebenermaßen nicht ganz eingehalten habe, aber ****** drauf). Hierzu habe ich mir zu allererst einmal den Handlungsort – das Wohnzimmer der Familie S. – aufgemalt. Doch wie schafft man es, den Schauplatz einer Geschichte in das Hirn des Lesers zu teleportieren? Es gibt zwei einfache Wege:

  1. Man lässt die Figuren handeln. Dadurch, dass die Charaktere mit der Umgebung interagieren, erhält der Leser direkt ein Bild des Schauplatzes. In ESAV EID liest sich das dann so:
    Nachdem sie das Bücherregal durchforstet hat, rückt sie die übriggebliebenen Bücher enger zusammen, um die entstandenen Lücken zu kaschieren. Auf die frei gewordenen Flächen wird sie später einige dekorative Gläser oder Vasen stellen. Martina stellt den Karton auf dem kleinen Sofatisch ab. Dann geht sie zu dem kleinen Schränkchen, in dem Johannes‘ Musikanlage steht.
    Als Leser weiß ich jetzt, dass es in dem Wohnzimmer ein Bücherregal, einen kleinen Sofatisch und ein kleines Schränkchen – vielleicht eine Art Kommode – gibt.
    Weiter geht’s dann mit den Herren Ermittlern:
    Der Anwaltsgehilfe wirkt unsicher, als wüsste er nichts Rechtes mit sich anzufangen. Er tritt ständig von einem Fuß auf den anderen und blickt dabei immer wieder vom Ecksofa zur Sesselgruppe, die im sechseckigen Erker steht.
    Das Wohnzimmer verfügt offenbar über einen Erker und eine Sesselgruppe. All diese Informationen hat der Leser erhalten, ohne eine langweilige Beschreibung der Umgebung zu lesen, womit ich direkt komme zu Möglichkeit Nr. 2.
  2. Man beschreibt, wie die Gegend halt so aussieht. Ich war allerdings noch nie ein großer Fan von seitenlangen Landschaftsbeschreibungen à la Karl May (auch wenn mein absoluter Lieblingsautor, Michael Crichton, ebenfalls sehr gut darin war), was mich jedoch nicht davon abhält mich ab und an ebenfalls dieser Methode zu bedienen (ich vermute, dass man hierfür sehr viel besser sein muss, als ich es bin). So geschehen in meiner Kurzgeschichte „Sein letzter Witz“, in der Franklin die Wohnung von Rocco dem Clown betritt.
    Der einzige Raum ist gerade einmal so groß wie Franklins Küche und dient als Schlaf- und Esszimmer. In einer Ecke sind eine kleine Herdplatte und eine Spüle installiert. Die Tür zur Toilette ist aus den Angeln gefallen und lehnt an der Wand. Der Toilettendeckel ist hochgeklappt. Im ganzen Raum stinkt es. Absurderweise hängt an der Decke – als wäre er aus einem anderen Universum in die kleine Wohnung hereingeschneit – ein großer alter Leuchter.

Mir fällt kein kluges Schlusswort für diesen Beitrag mehr ein, drum höre ich einfach so auf. Punkt.

Der Wanderer

Das folgende Gedicht entstand – wenn man der Legende glauben schenken möchte – im Physikunterricht, während der Praktikant über den Mond schwadronierte. Eventuell vielleicht ist an dieser Geschichte etwas dran. Sie würde zumindest die Thematik des Werks erklären.

Wir steh’n in deiner Bahnen Mitte
Nachts erhellst du unsre Schritte
Verbirgst ganz selten dein Gesicht
Sendest uns dein fahles Licht
Mal wächst du an, mal wirst du klein
„Wieso verändert sich dein Schein?“
Fragten einst der Gelehrten Kreise
Und antworteten auf diese Weise
„Oh welche Freud, oh welche Wonne,
die Ursache liegt bei der Sonne!“

Ein Absatz im Wandel der Zeit

Wie ändert sich ein Text im Laufe der Überarbeitung (die ja, zwangsläufig iterativ verläuft)? Meine Texte bieten dafür wahrscheinlich kaum Anschauungsmaterial, da ich – entgegen der Empfehlung eines gewissen Herrn King – eher „mit geschlossener Tür“ (na, vielleicht doch eher „leicht angelehnter Tür“) an die Überarbeitung meiner Texte gehe.

Nichts desto trotz habe ich einmal einen Absatz aus meinem Buch „Haus Marianne“, den ich gerne – in seinen verschiedenen Entwicklungsstadien – teilen möchte.

1. Die „Rohfassung des Manuskripts“ (von vorne nach hinten runtergeschrieben, Null Überarbeitung, Rechtschreibefehler zum Mitnehmen):
Ich kannte Mia von Früher, als wir beide noch jugendliche waren und noch nicht an Tod oder Dinge wie Darmkrebs dachten. Wobei ich schon an Tod dachte, hatte ich doch kurz nachdem Mia fortgezogen war, einen üblen Kerl die Treppe heruntergestoßen. Das jedenfalls war die Version, der ich seit dem erlaubt hatte, in meinem Gedächtnis zu verweilen.          
Wie man unschwer erkennen kann, ist alles noch arg „verschwurbelt“ und dilettantisch (man beachte den plumpen Versuch des Foreshadowings). Also gings zunächst mal zum Adverbienstreicher Mr. Lu.

2. Die Manuskriptfassung, mit der ich zum ersten Mal eine etwas größere Testlesergruppe quälte. Auch hier gab es noch Tippfehler. Die einzige Überarbeitung, die zwischenzeitlich stattgefunden hatte, waren ein paar Rechtschreibefehler. Wie gesagt: Ich überarbeite mit geschlossener Tür.
Ich kannte Mia von Früher, als wir beide noch Jugendliche waren und noch nicht an Tod oder Dinge wie Darmkrebs dachten. Wobei ich schon an Tod dachte, hatte ich doch kurz nachdem Mia fortgezogen war, einen üblen Kerl die Treppe herunter in den Tod gestoßen. Das jedenfalls war die Version, der ich seit dem erlaubt hatte, in meinem Gedächtnis zu verweilen.
Ich schäme mich ein wenig dafür, dass ich nicht all die Worte weggelassen habe, die mir mein Erstleser gestrichen hat (zum Beispiel „ich schon an Tod dachte, hatte ich doch kurz nachdem“). Aber wie man noch sehen wird, bin ich auch zu Änderungen fähig.

3. Aus den Rückmeldungen meiner sechs Testleser bastelte ich eine Version, die ich meiner Lektorin vorlegte.
Ich kannte Mia von früher, als wir beide noch Jugendliche waren und noch nicht an Tod oder Dinge wie Darmkrebs dachten. Das fing erst an, als ich, kurz nachdem Mia fortgezogen war, einen üblen Kerl die Treppe herunter in den Tod gestoßen hatte. Das jedenfalls war die Version, der ich seitdem erlaubt hatte, in meinem Gedächtnis zu verweilen.
Die einzige Entschuldigung, die ich für meine Sturheit habe, ist eine Charaktereigenschaft von mir, die mein Bruder einmal wie folgt beschrieb: „Ein David Hermann hat keinen Sinneswandel!“

4. Werfen wir einen Blick ins fertige Buch. Wie man unschwer erkennen kann, bin ich, wenn man mich nur lange genug nervt (okay, sagen wir mal „auf Dinge hinweist“), doch zu Änderungen fähig.
Ich kannte Mia von früher, als Mia noch jung und ich noch unschuldig war und wir noch nicht an Dinge wie Tod oder Darmkrebs dachten.

Wie ich schon in den Danksagungen meines Machwerks schrieb (oder „schrob“, wie es eigentlich heißen müsste), gehe ich nicht wirklich mutig an meine Texte heran. Ich gelobe an dieser Stelle Besserung. Das Netz ist mein Zeuge.

Revolution

„Jetzt reichts, das Maß ist voll!“, denkt Jonas. Er knallt seinen Füller so geräuschvoll auf den Tisch, dass Herr Geier, der vorne an der Tafel den Satz des Pythagoras erläutert, mitten in der Beweisführung innehält und völlig verdutzt in Jonas’ Richtung sieht.
„Wie bitte?“, fragt Herr Geier, nachdem er sich wieder gefangen hat.   
„Ich sagte: Es reicht!“, antwortet Jonas bestimmt. „Ich sehe es nicht weiter ein, diesen Scheiß zu lernen. Diesen Satz des Prythagonas braucht nachher sowieso kein Schwein.“  
Herr Geier räuspert sich zunächst, bevor er erwidert: „Richtig heißt es: ‚Satz des Pythagoras‘. Und natürlich brauchst du den später in deinem Leben noch.“       
„Einen Scheiß brauch ich den. Ich will Influencer auf YouTube oder Twitch werden“, ruft Jonas, „da muss man so einen Quatsch nicht wissen.“
Er schleudert sein Mathebuch auf den Boden und packt sein Mäppchen ein. Dann steht er auf und ruft seinen erstaunt dreinblickenden Klassenkameraden zu: „Ich geh jetzt nachhause und mach Headshot-Training. Am Wochenende hab‘ ich wieder einen Streamingmarathon.“
Seine Mitschüler jubeln ihm zu. Einige werfen ebenfalls ihre Mathebücher auf den Boden.        
Plötzlich steht Johanna auf. Zunächst streicht sie noch zögerlich ihre Haare aus dem Gesicht, dann sagt sie laut und deutlich: „Ich gehe auch. Ich werde ab jetzt jeden Tag für das Klima streiken. Nur Fridays for Future reicht eben nicht aus. Wir müssen jeden Tag auf die Straße gehen, sonst checken die da oben gar nix mehr.“       
Jubelrufe aus dem Publikum. Herr Geier hat mittlerweile deutliche Schweißflecke unter den Armen. Die Situation ist ihm irgendwie entglitten.           
„Aber ihr könnt doch nicht einfach so der Schule fernbleiben“, stammelt er.     
Doch, sie könnten. Jonas, einige weitere aufstrebende YouTube-Stars und Johanna schultern ihre Taschen und verlassen – gefeiert wie eine siegreiche Fußballmannschaft – das Klassenzimmer. Paul ist sogar so dreist, sich im Treppenhaus eine Zigarette anzustecken.      
„Dem haben wir es gegeben!“, krakelt er, als sie draußen sind, und holt sein Smartphone raus. Das Display bleibt schwarz.             
„Verdammt, mein Akku ist tot“, flucht er.           
Doch er ist nicht der einzige, dessen Smartphone seine Dienste verweigert. Auch bei den anderen bleibt das Display schwarz.             
„Ist auch egal“, sagt Johanna und fährt fort: „Die Dinger zerstören eh nur den Planeten.“

Was die Gruppe der tapferen Revoluzzer nicht weiß, ist, dass Herr Geier, nachdem die Menschheit die Sache mit dem Klima in den Sand gesetzt hatte, eine Maschine erfand, mit der er rückwirkend alle Technischen Erfindungen unbrauchbar machte, die nur dank der Mathematik funktionierten. Alle, einschließlich seiner Erfindung.

Ende

Warum?

Ich stehe am Ufer

Vor mir: Ein Ozean aus Fragen

Fragen nach dem Sinn, dem Weg und dem Grund

Dem Grund für alles hier

 

In meinem Kopf: Mückenschwärme aus Antworten

Zwecklos, nach ihnen zu greifen

Ich tue es dennoch

Und tappe ins Leere

 

Ich stehe am Ufer

Zwischen meinen Zehen: Der Sand der Zeit

Jener Zeit, der man nachsagt, sie heile alle Wunden

Sie rieselt vor sich hin

 

Die Weisen wollen mich mit ihren Antworten erleuchten

Ihre Irrlichter ziehen mich an

Welcher Rat wird sich als Nebelkerze erweisen?

Die Zeit wird es zeigen

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