Have a break, write a book

Kategorie: Prosa (Seite 4 von 4)

Alle Texte, die nicht bei drei auf den Bäumen waren.

All der Erfolg, der Neid und die verdammte Glückseligkeit

Mal wieder hat mit der liebe Lutz einen Titel vorgegeben. Mal wieder ist eine bescheuerte Geschichte dabei rausgekommen. Wie immer bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich mich immer an die korrekte Zeitform gehalten habe. Mir gefällt sie dennoch.

Silvia spürt regelrecht, wie sich kleine rote Flecke in ihrem Gesicht bilden. Die Wärme, die sich auf ihren Wangen ausbreitet, das leichte Jucken an ihren Ohren und nicht zuletzt ihr krampfhafter Biss sind untrügliche Zeichen dafür, dass es mal wieder soweit ist. Und an all dem ist niemand Geringeres Schuld als ihre Kollegin Monika, die wie jeden gottverdammten Montagmorgen mit einem breiten Grinsen in der Visage, laut „GUTEN MORGEN!“ schreiend, das gemeinsame Büro betritt.
„Ah, ist das ein herrlicher Morgen. So ein tolles Wetter. Und diese klare Luft. Herrlich!“, sagt Monika und Silvia fragt sich, wie jedes Mal, ob sie mit dem Stuhl, ihrem Computer oder der Wand spricht. Jedenfalls nicht mit ihr. Silvie hängt die permanente Glückseligkeit ihrer Kollegin schon lange mächtig zum Hals raus.
„Nun, wir haben ja Gott sei Dank eine Garage. Du musstest ja bestimmt heute Morgen schon kratzen, nicht wahr?“
Die ganze verdammte letzte Woche, aber das müsste sie Monika aus dem Lummerland bestimmt nicht auf die Nase binden.
„Ich war eben noch beim Bäcker und habe uns ein paar Croissants besorgt. Die können wir nachher verputzen, wenn wir die Übergabe machen“, sagt Monika und Silvia findet es langsam, aber sicher merkwürdig, dass ihre Zornesflecken noch gänzlich unentdeckt geblieben sind. Jetzt treten auch noch ihre Adern hervor. Sie kommt sich vor, wie der alte Schnellkochtopf ihrer Großmutter, der einmal beim Marmeladeeinkochen geplatzt war. Das war die größte und zugleich leckerste Sauerei ihres damals noch jungen Lebens gewesen. War es nicht oft so, dass schreckliche Situationen auch etwas Schönes hatten? Es bleibt weiterhin abzuwarten, welche guten Seiten die Zusammenarbeit mit Monika hat.
„Wie wäre es, wenn ich dir gleich alles zeige, dann kann ich dir auch gleich von unserem tollen Urlaub erzählen. Ich freue mich ja schon so sehr.“
Mal davon abgesehen, dass Silvia all die Hochglanzwerbebilder von Monikas Südseehotel bestimmt schon dreimal gesehen hat, war es da wieder. Dieses eine Wort. All diese „uns“ und „wir“ und „gemeinsam“. Dann soll sie sich doch mit ihrem Schatzilein auf irgendeinem Südseestrand verbuddeln und an dem verdammten Sand ersticken. Viel Sand würde sie bei ihrer Bikinifigur ja ohnehin nicht benötigen.
„Es wird bestimmt so wahnsinnig schön.“
Silvia, die soeben beschlossen hat, dass es jetzt endlich reicht, nimmt einen der Croissants. Natürlich sind es mal wieder die Ökovollkorndinger, die kein Mensch isst, außer dieser immerfröhliche Hungerhaken und sein Schatzilein. Silvia isst ihn trotzdem.
Dann zieht sie Monika in den Papierkorb, rechtsklickt ihn und wählt „Papierkorb leeren“. Wie von Geisterhand verschwindet die Zornesröte aus ihrem Gesicht und ihre Adern schwellen ab.
Die Tür geht auf und ihr Chef kommt reingestürmt.
„Wo ist denn Frau Zabel?“
„In der Südsee. Mit ihrem Schatzilein.“

Ende

Der Apache

Zu der folgenden Geschichte muss ich zwei Anmerkungen machen: Der Titel wurde mir von Lutz vorgegeben. Außerdem ist der erste Satz der Geschichte ganz eindeutig eine Hommage an Karl Mays „Winnetou Teil 1“. Viel Spaß beim Lesen.

Immer fällt mir, wenn ich ans Basteln denke, die Marmelade ein. Wie das sein kann, fragen Sie sich? Es liegt an der Art, wie ich bastle und wie ich Marmelade koche. Denn bei beidem gehe ich besonders gewissenhaft vor. Anders als meine Frau, die sich, wenn sie Marmelade kocht, mit einem Pürierstab durch die roten Beeren pflügt als gäbe es kein Morgen, kümmere ich mich um jede einzelne Beere, als hätte ich nur diese eine auf dem Feld gesammelt. Mit voller Hingabe zerdrücke ich sie langsam mit dem Löffel, bis schließlich ihre dünne Haut aufplatzt und der rote Saft hervorquillt. Dann greife ich zur nächsten Beere. Natürlich schaffe ich bei solch einer Vorgehensweise höchstens ein Glas pro Tag, doch schmeckt die Marmelade, dank all der Mühen, tausendfach besser.
Nach derselben Methode gehe ich vor, wenn ich bastle. Was hatte ich eine Freude beim Zusammensetzen all der Helikopter, Panzer und Flugzeugträger, die jetzt aufgereiht auf dem gläsernen Regal stehen. Unbezahlbar ist die Ruhe, die ich – unten in meinem Kellerraum – empfinde, wenn ich ein neues Model zusammensetze. Stück für Stück. Jeden Tag klebe ich nur ein einziges Bauteil an, so sehr habe ich mich diszipliniert. Doch dieses eine Bauteil muss perfekt sitzen, weshalb ich mich besonders stark konzentrieren muss.
Heute stehe ich – leicht vorübergebeugt – vor dem Apache AH 64 und halte das vorletzte Bauteil – die Heckrotoren – in der Hand. Bald schon würde er sich zu seinen Brüdern – dem Comanche, dem Eurofighter und all den anderen – gesellen. Nur noch zwei Teile sind anzubringen.
Vorsichtig bestreiche ich die Enden der Rotorblätter mit dem teuren Klebstoff. Das Teil muss perfekt sitzen. Perfekt. Mit ruhigen Fingern setze ich es exakt an seine Position und halte es kurz fest, bis der Kleber getrocknet ist, als plötzlich das Telefon klingelt und mich aus meiner konzentrierten Anspannung reißt.
Ich schrecke hoch und stoße mit dem Kopf an die Deckenlampe. Ich strauchle, drohe vornüber zu fallen und stütze mich irritiert mit der Hand auf dem Tisch ab.
Es knackst laut, als ich den Apache mit meinem Gewicht zertrümmere. Ich spüre einen Stich in meinem Herzen, als hätte ein Unbekannter mir von hinten ein Fleischermesser durch die Brust gerammt. Mein Hirn will explodieren, meine Seele zerreißt.
Schwer atmend richte ich mich auf und betrachte, was ich angerichtet habe: Der Hubschrauber – und damit die Arbeit von mehr als zwei Monaten – ist hinüber. Und das alles nur wegen eines dämlichen Anrufs, um den sich ohnehin in wenigen Augenblicken der Anrufbeantworter kümmern würde. Durch einen Tränenvorhang sehe ich zu dem letzten Bauteil. Die Rotorblätter, die ich morgen angebracht hätte, liegen neben der Pappschachtel mit dem Bild des Apaches bereit. Mit zittrigen Fingern greife ich nach ihnen, breche sie in der Mitte durch und werfe sie in den Papierkorb. Der Apache folgt ihnen.
Morgen werde ich – einen Tag früher als geplant – mit dem Bau des Leopardpanzers beginnen. Bis dahin, sollte ich mich etwas sammeln, um die nötige Konzentration aufbringen zu können. Vielleicht gönne ich mir ein Marmeladenbrot. Der rote Brei wird mir guttun. Oh, dieser schöne rote Brei.

Ende

Gastbeitrag „Körzdörfers Kratzen“

Der gute Lutz war so freundlich und hat mir eine Geschichte geschenkt. Hier ist sie.

Körzdörfers Leben kratzte ihn. Und wer ist schon ganz zufrieden, wenn ihn andauernd etwas kratzt? Richtig: Niemand. Aber Körzdörfer war jetzt auch nicht der Mensch, der es sich zur Aufgabe machte, sein Leben irgendwie annehmlicher zu gestalten. Körzdörfer war Naturwissenschaftler durch und durch. Der Versuchsaufbau durfte nicht aufgrund subjektiver Befindlichkeiten verändert werden. Vielleicht war Thales allem Runden abgeneigt gewesen. Was wäre gewesen, hätte er nie seinen berühmten Satz gesagt? Richtig: Die Geometrie steckte immer noch in den Kinderschuhen. Nein, es führte zu nichts, sich von seinen Gefühlsduseleien leiten zu lassen.

Einmal hatte Körzdörfer es dennoch versucht und ein paar Verse geschrieben. Schmierige Verse, von Pathos triefend. Sie hatten von Liebe, dem Mond und der Eulerschen Zahl gehandelt. Körzdörfer war stolz auf sie gewesen und zum ersten Mal hatte er das Kratzen fast nicht mehr gespürt. Er hatte sie einem Freund gezeigt, der sie lobte. Er hatte sie Kollegen vorgelesen, die ihn bewunderten. Schließlich gab er sie seinem Vater. Dieser lächelte und sprach vom Wetter. Es war sicher kein ungerührtes vom Wetter Sprechen, aber es war eben auch nicht mehr.

An diesem Abend konnte Körzdörfer wieder nicht einschlafen, so sehr kratzte es ihn. Und das Kratzen war längst nicht mehr nur äußerlich, nein, sein Hals kratzte auch.

Körzdörfer unternahm einen letzten verzweifelten Versuch mit dem Kratzen klarzukommen. Er untersuchte es wissenschaftlich. Er erhob weltweit Daten, sammelte sie und wertete sie aus. Er erforschte das Kratzen von innen. Zerlegte es in all seine Bestandteile. Bald schon stieß Körzdörfer auf scheinbar unüberwindliche Grenzen des wissenschaftlich Aussagbaren. Aber er ließ sich nicht aufhalten, sondern erweiterte unaufhörlich das ihn umgebende Team. Sie waren multiprofessionell, überkonfessionell und manche von ihnen drogenabhängig oder schizophren. Aber all das tat der wissenschaftlichen Erforschung des Kratzens keinen Abbruch, sondern ganz im Gegenteil: Körzdörfer und sein Team eilten von Erkenntnisgewinn zu Erkenntnisgewinn. Und längst waren die Forschungsergebnisse nicht mehr auf das schmale Gebiet des Kratzens beschränkt. Die Atomphysik, die naturwissenschaftliche Erforschung des Stolperns und der Kreisligafußball im Schweizer Kanton Appenzell-Innerrhoden profitierten ungemein von allem, was Körzdörfer und sein Team an Erkenntnissen zutage förderten.

Körzdörfer starb in hohem Alter zufrieden, glücklich und ausgesöhnt mit seinem Kratzen. Er hatte sein Leben der Wissenschaft gegeben, vielen Menschen geholfen und niemandem geschadet. Ihm verdanken wir die beiden Sätze übers Kratzen, die auch nach heutigem Wissensstand noch nichts an Aktualität eingebüßt haben. So bleibt mir, als einem der dem zweiten Satz übers Kratzen vielleicht nicht weniger als sein Leben verdankt, in aller Schlichtheit nur eines zu sagen: Danke, Körzdörfer!

Totgeburt

Daniel wagt es nicht, in den Rückspiegel zu schauen. Aus Furcht vor dem, was er dort sehen könnte, oder auch nicht sehen würde, starrt er wie gebannt auf die Straße vor ihm. Die Mittelstreifen verschwimmen zu einer durchgängigen Linie und es kostet Daniel von Minute zu Minute mehr Kraft, nicht doch einmal einen Blick zur Seite oder gar nach hinten zu werfen. Nicht jetzt.

Vor etwa einer halben Stunde, als die Welt noch in Ordnung war, hat er die Nachricht seiner Frau erhalten, die Wehen hätten eingesetzt. Daniel war gerade in seinem Büro gewesen, hatte alles stehen und liegen gelassen und war in die Tiefgarage zu seinem Benz geeilt. Eine Minute später war seine Kollegin Michaela, die gerade vor dem Gebäude eine Zigarette rauchte, zu Staub zerfallen. Daniel bemerkte das erst auf den zweiten Blick, den er nach links warf, um zu sehen, ob die Fahrbahn frei wäre.

Sein Herz setzte aus. Wieso ausgerechnet jetzt, wo er doch all die Jahre Ruhe gehalten hat? Unter großer Anstrengung wischte er den Gedanken an seine Kollegin und wen es sonst noch erwischt haben mochte zur Seite und trat das Gaspedal durch.

Das erste Mal hatte ihn der Tod – oder wie er es nannte: der Verfall aller Dinge – in seiner Jugendzeit besucht. Zumindest konnte er sich an keine frühere Begegnung erinnern. Daniel war gerade durch den Wald gejoggt – angetrieben von dem athletischen Aussehen seiner Mitschüler – als er hinter sich ein Rascheln vernahm. Er zuckte leicht zusammen, während seine letzten Gedanken an seine Klassenkameradin Kira ins Nirwana flogen, und drehte sich um.

Er vermutete, dass ein solches Rascheln meist von einem kleinen Tier – etwa einem umherhüpfenden Vogel – verursacht wurde, doch an diesem Tag entsprach nichts dem, was man Normalität nennen mochte. Die Quelle des Geräuschs war tatsächlich ein kleiner Vogel gewesen. Jedoch war dieser Vogel nicht durchs Laub gehüpft, sondern tot vom Himmel gefallen.

Daniel bückte sich nach dem kleinen Geschöpf. Er hob einen Zweig auf, um den Vogel damit auf die andere Seite zu drehen. Doch, als er das Tier berührte, gab das Gefieder nach und der kurze Ast stieß durch bis auf den trockenen Waldboden. Im Vogel klaffte ein Loch, wie von einer Gewehrkugel, als hätte ihn jemand vom  Himmel geschossen. Jedoch waren die Ränder dieser Wunde nicht ausgefranst und Blut konnte Daniel auch keines sehen. Es sah vielmehr so aus, als sei der Vogel durch die Berührung des Astes zu Staub zerfallen.

Aus Angst, er könne sich durch den Kadaver mit irgendwelchen dubiosen Krankheiten infizieren, ließ er den Vogel achtlos liegen und lief weiter. Am Ende seiner Laufstrecke blieb Daniel atemlos stehen und dehnte seine Beinmuskulatur. Als er sich umdrehte, um den Weg, den er gekommen war zurückzulaufen, sah er den Schmetterling.

Der Falter saß auf einem Grashalm und schlug mit den Flügeln. Mit einem Mal klappte sein linker Flügel nach unten, während der rechte sich weiter auf und ab hob. Daniel sah das Insekt genauer an. Dabei bemerkte er einen feinen Riss, der sich durch den Falter zog, wie ein Riss in der Tapete. Entlang dieser dünnen Linie schien alles Leben aus dem Tier gewichen zu sein. Der linke Flügel wirkte irgendwie farbloser und der Fühler auf der linken Seite war kurz oberhalb des Kopfes abgeknickt, wie ein Grashalm, der dem starken Wind nicht gewachsen war.

Vorsichtig griff Daniel nach dem Schmetterling und berührte dessen linken Flügel. Er spürte, wie der Flügel in sich zusammenfiel, wie die Asche eines verbrannten Blatt Papiers. (Daniel hatte einmal eine Mathearbeit verbrannt, die er unmöglich seinen Eltern zeigen konnte.) Der Falter kam, jetzt, da ihm ein Flügel fehlte, aus dem Gleichgewicht und kippte nach rechts.

Auf seinem Weg zurück bemerkte Daniel noch weitere Veränderungen in der Natur. Einige Bäume hatten ihre Blätter verloren. Drei Bäume waren gar ganz umgestürzt. Es schien, als habe eine schreckliche Macht das Leben aus allem gesogen. Erst nach etwas mehr als einem Kilometer ließen diese Veränderungen nach. Hier blühten wieder alle Bäume und die Tiere huschten durchs Gestrüpp. Daniel blieb stehen und blickte über die Schulter zurück. Der Anblick, der sich ihm bot, nahm ihm den Atem.

Links und rechts des Weges türmten sich herabgefallene Äste, der Waldboden war übersäht mit verfaulten Blättern und genau in dem Moment, als Daniel sich umdrehte, stürzten drei weitere Vögel leblos vom Himmel.

Nur mit Mühe konnte Daniel sich aus seiner Erstarrung lösen. Als es ihm gelang, drehte er sich um und rannte so schnell er konnte zurück zu seinem Fahrrad, das er am Waldrand an einen Baum gekettet hatte.

Daniel lenkt den Benz über die Bundesstraße. Die nächste Ausfahrt ist seine. Er setzt den Blinker und fährt, ohne in den Spiegel zu sehen, auf den Verzögerungsstreifen. Vor ihm kriecht ein alter Golf über die Fahrbahn. Daniel tritt auf die Bremse. Dann wirft er einen kurzen Blick auf das Display seines Smartphones. Susanne hat ihm keine weitere Nachricht geschickt. Er weiß nicht, ob er das gut oder schlecht finden soll. Gedankenverloren legt er sein Mobiltelefon auf den Beifahrersitz. Als er seinen Blick wieder auf die Straße wirft, streift er kurz den Innenspiegel. Das Blut gefriert in seinen Adern.

Hinter ihm fällt ein verrosteter alter Laternenpfahl in sich zusammen, die Straße ist brüchig und dort wo einige Büsche am Straßenrand gestanden haben, klafft ein Loch in der Realität, wie ein Loch in einer Mauer, auf die jemand mit einem schweren Hammer eingeschlagen hat. Daniel kann seinen Blick nur schwer vom Spiegel losreisen. Seine Schläfen pochen. Großer Gott, hinter dem Loch war nichts. Keine Wirklichkeit!

Daniel war einige Tage später noch einmal in den Wald zurückgekehrt. Die Natur hatte sich wieder etwas erholt. Das Forstamt hatte die umgestürzten Bäume an den Wegesrand geschafft. Daniel suchte den Waldboden konzentriert ab, konnte jedoch keinen Vogelkadaver finden. „Im Wald bleibt nichts liegen“, hatte sein Biolehrer immer gesagt. Daniel war sich nicht sicher, ob das Verschwinden der toten Vögel auf die anderen Tiere zurückzuführen war. Er glaubte vielmehr, dass sie einfach zu Asche zerfallen waren. Als er die Stelle erreichte, an der er einige Tage zuvor umgekehrt war, blieb er stehen. Er wagte es nicht, sich umzudrehen. Langsam schloss er seine Augen, atmete tief ein und wieder aus und dreht sich dann um. Als er seine Augen wieder öffnete, bot sich ihm das gewohnte Bild. Die Blätter hingen alle noch an den Bäumen, die Vögel flogen weiterhin durch die Luft oder hüpften über den Boden und die Insekten schwirrten umher. Dennoch spürte Daniel ein Gefühl der Beklemmung. Er wusste nur nicht, wieso. Erst, als er spät in der Nacht in seinem Bett lag, wurde ihm klar, woher dieses Gefühl gekommen war: Er hatte nichts gehört. Der Wald war vollkommen still gewesen.

Der Verfall aller Dinge war ihm nur noch zweimal über den Weg gelaufen. In keinem der Fälle hatte Daniel ihn kommen sehen. Er kam unangekündigt, wie die Zeugen Jehovas oder ein Landstreicher, der an der Tür klingelte und nach etwas Geld fragte.

Das zweite Mal trafen sie aufeinander, als Daniel kurz vor seiner letzten Abiturprüfung stand. Er war nach dem Unterricht etwas länger in der Schule geblieben, um in der Bibliothek noch etwas zu recherchieren. Nach einer Stunde bekam er so starke Kopfschmerzen, dass er beschloss, das Lernen für diesen Tag einzustellen. Er nahm die geliehenen Bücher und trug sie zurück zu den entsprechenden Regalen.

Schon von weitem konnte er sehen, dass die anderen Bücher, die sich in dem Regal befanden, alt und verrottet waren. Die Einbände waren schimmlig geworden, die Farbe blätterte ab und das Papier war brüchig und vergilbt. Daniel wusste sich nicht anders zu helfen, als seine drei Bücher in das Regal zu legen und die Bibliothek durch den Hinterausgang zu verlassen. Er war direkt zur Bushaltestelle gegangen und nachhause gefahren. Seitdem hatte er nie wieder einen Fuß in die Bibliothek gesetzt.

Ihre dritte und bisher letzte Begegnung hatten Daniel und der Tod vor etwas über drei Jahren während eines Theaterbesuchs. Daniel war in der Pause auf die Toilette gegangen. Als er sich die Hände wusch und währenddessen im Spiegel betrachtete, fiel sein Blick auf den Mann, der gerade eben aus der Kabine kam. Er hatte langes, weißes Haar, dass ihm ungekämmt ins Gesicht hing und gelbe, lange, brüchige Fingernägel, die an mehreren Stellen eingerissen waren. Das erschreckendste war jedoch seine Haut. In seinem Gesicht hatten sich Blasen gebildet und von seiner Stirn hing ein großer Lappen blauer Haut herab. In der dort entstandenen Lücke klaffte das Nichts.

Daniel erbrach sich ins Waschbecken und verließ das Theater ohne, sich noch einmal umzudrehen. Erst als er draußen war, schrieb der Susanne eine SMS. Dann wartete er vor dem Eingang, den Blick auf die Tür gerichtet. Er wollte seiner Frau ins Gesicht sehen, wenn sie die Treppe herunterkam. Er wollte auf keinen Fall hinter sich blicken. Und auf keinen Fall würde er jemals wieder leichtsinnig in einen Spiegel schauen.

Daniel erreicht sein Haus eine halbe Stunde, nachdem er sein Büro verlassen hat. Er lässt den Wagen in der Einfahrt stehen und rennt, ohne noch einmal hinter sich zu sehen, den kurzen Weg zur Haustür hinauf. Vor der Tür fällt ihm der Schlüssel aus der Hand, so schweißnass sind seine Finger. Er hebt ihn auf und öffnet die Tür. Dann tritt er ein. Er weiß, dass Susanne oben im Schlafzimmer liegen wird (der Arzt hat ihr Bettruhe verordnet), trotzdem ruft er nach ihr. Ihre Stimme gibt ihm recht. Er eilt die Treppe nach oben, bleibt jedoch auf halber Strecke stehen. Mit pochendem Herzen dreht er sich um und rennt runter in die Küche, um eine Schere zu holen.

Als er wieder die Treppe hochläuft, sieht er die feinen Risse in der Tapete und die Wurmlöcher im Treppengeländer. Er ist da. Der Verfall aller Dinge.

Daniel öffnet die Schlafzimmertür und schließt sie sofort wieder, als er den Raum betreten hat. Er schließt sie, ohne sich umzudrehen. Er wagt es nicht, seiner Frau den Rücken zuzudrehen. Nicht jetzt. An ihrem Gesichtsausdruck versucht er abzulesen, ob ihr die vermoderte Tapete im Flur aufgefallen ist. Sie blickt ihn völlig normal an.

„Da bist du ja endlich.“

„Es tut mir leid, aber vor mir fuhr eine alte Oma ihren klapprigen Golf spazieren.“

„Fahr mich bitte ins Krankenhaus.“

Daniel hat damit gerechnet, dass Susanne das verlangen wird. Er schüttelt den Kopf. „Das geht nicht.“

„Wieso?“

Weil er wieder da ist. Daniel schweigt zunächst. Dann legt er die Schere auf das Bett. „Wir erledigen das selbst.“

„Ich will keine Hausgeburt!“ Susanne sieht in Daniels Augen, dass er nicht bereit ist, von seinem Vorhaben abzurücken. „Ruf wenigstens Maria an.“ Daniel überlegt einen Moment, ob er es riskieren kann, die Hebamme hinzuzuziehen, dann schüttelt er langsam den Kopf.

„Es geht nicht. Es tut mir so leid.“

Irgendwas an seinem Blick macht Susanne Angst. Sie kann es nicht genau ausmachen, doch sie weiß, dass sie sich zurecht fürchtet. Sie weiß, dass sie sich vor allem um ihre Tochter sorgen machen muss.

Daniel umrundet das Bett. Dabei ist sein Blick fest auf Susanne fixiert. Er geht rückwärts in das kleine Badezimmer und holt einige Handtücher. Dann steht er etwas ratlos im Schlafzimmer. Schließlich fragt er: „Wie häufig kommen die Wehen?“

„Etwa alle fünf Minuten. Es verwundert mich, dass du bisher noch keine mitbekommen hast.“ Kaum hat sie es ausgesprochen, als auch schon die nächste Wehe einsetzt. „Würdest du jetzt bitte Maria anrufen und herbitten?“ Es ist mehr eine Aufforderung als eine Frage. Daniel denkt fieberhaft nach. Schließlich zieht er sein Smartphone aus seiner Tasche. Er entsperrt es und blickt auf das Display. In der Scheibe spiegelt sich die Gardine hinter ihm. Augenblicklich zerfällt sie zu Staub. Susanne schreit laut auf.

„Ich kann sie nicht anrufen. Die Welt würde zerfallen. Verstehst du das denn nicht?“ Daniel sieht dem Gesicht seiner Frau an, dass sie nichts versteht. Aber da ist noch etwas in ihrem Blick. Durch die Verzweiflung hindurch scheint etwas, das Daniel für Vertrauen hält. „Wir werden das auch ohne Marie schaffen.“ Er nimmt Susannes Hand und drückt sie fest. Susanne nickt. Dann fängt sie an zu schreien.

„Es geht los!“

Und es geht los. Susanne drückt immer fester Daniels Hand. Das Smartphone liegt mittlerweile achtlos auf dem Fußboden. Etwas knackst in Daniels Hand. Susanne atmet jetzt immer hektischer. Daniel versucht sich an die Dinge zu erinnern, die sie gemeinsam mit der Hebamme besprochen haben. Verzweifelt versucht er, seine Hand aus Susannes festem Griff zu lösen. Als ihm das nicht gelingt, geht er in die Knie und streicht mit der freien Hand sanft über Susannes Kopf. Sie entspannt sich ein wenig, ohne jedoch den Griff um Daniels Hand zu lockern. Ihre Atmung ist jetzt kontrollierter.

Auf einmal kann sich Daniel doch an etwas aus den Vorbereitungskursen erinnern: Eine Geburt kann zwischen acht und fünfzehn Stunden dauern. Er versucht noch ein letztes Mal, sich aus dem Griff seiner Frau zu befreien. Schließlich gibt er auf und denkt nur noch, dass es ja auch irgendwie fair ist, dass er ebenfalls Schmerzen ertragen muss.

Keine fünf Stunden später legt Daniel die Schere weg, mit der er zuvor die Nabelschnur durchtrennt hat. Seine Tochter weint lauthals, was Daniel zunächst besorgt registriert, bis er sich daran erinnert, dass es sich nur um ein Zeichen dafür handelt, dass das Baby Luft bekommt.

Susanne liegt völlig erschöpft in ihrem Bett. Das Bettzeug ist blutverschmiert. Daniel lächelt seiner Frau zu während er seine Tochter im Arm wiegt. Er ist so fasziniert von dem kleinen Geschöpf in seinen Händen, dass er sich gedankenverloren im Kreis dreht. Als er seine Frau das nächste Mal sieht, ist sie allem Anschein nach tausend Jahre alt. Daniel lässt vor Schreck beinahe seine Tochter fallen. Er stürzt auf das Bett zu. Das Holzgestell ist überall morsch, die Blutlache auf dem Laken ist völlig vertrocknet. Das Bettzeug ist zu Staub zerfallen. Susannes Haut ist nahezu an jeder Stelle ihres Körpers abgefallen und liegt wie feine Asche neben dem schwarzen Skelet. Ihre Haare sind grau.

Daniel schießen die Tränen in die Augen. Als er anfängt laut und ohne Scham zu weinen, beginnt auch seine Tochter in seinen Armen zu schreien. Er drückt sie jetzt fester an sich und wiegt sie hektisch hin und her, wodurch sie nur noch lauter weint. Daniel steht hilflos inmitten eines toten Schlafzimmers und weint, bis seine Tränen versiegen, schreit lautlos in die Nacht, bis seine Kehle vertrocknet.

Daniel hat aufgehört zu weinen. Er ist mit Susanna – er hat es nicht übers Herz gebracht, seiner Tochter den Namen ihrer Mutter zu geben – nach unten ins Wohnzimmer gegangen. Die Treppenstufen haben unter seinem Gewicht leicht nachgegeben. Die Tapete im Flur und auf der Treppe ist mittlerweile in ihre Bestandteile zerfallen und hängt ausgebleicht lose an der Wand.

Susanna liegt jetzt auf einer Wolldecke auf dem Fußboden und spielt vergnügt mit einem kleinen Plastikball, den sie immer wieder fallen lässt. Daniel hebt ihn jedes Mal auf und reicht ihn ihr. Susanna nimmt ihn unbeholfen in ihre kleinen Hände und quietscht fröhlich, als sie ihn ein weiteres Mal wegwirft. Reflexartig dreht Daniel sich nach dem Ball um, der unter den Klavierhocker rollt und erstarrt mitten in der Bewegung. Sein Herz hört auf zu schlagen und in seinem Hals bildet sich ein Kloß, der ihm den Atem nimmt. Daniels Lippen zittern unkontrolliert. Angespannt horcht er in die Stille, doch da ist nichts. Kein Ticken einer Uhr, kein Atemgeräusch seiner Tochter. Wäre doch wenigstens das Rascheln eines herumhüpfenden Vogels zu hören. Daniel fegt diesen Gedanken zur Seite.

Plötzlich hört er doch etwas. Ein leiser Atemzug seiner Tochter. Daniel fallen ganze Gebirge vom Herzen. Dann beginnt Susanna qualvoll zu schreien.

Revolution

„Jetzt reichts, das Maß ist voll!“, denkt Jonas. Er knallt seinen Füller so geräuschvoll auf den Tisch, dass Herr Geier, der vorne an der Tafel den Satz des Pythagoras erläutert, mitten in der Beweisführung innehält und völlig verdutzt in Jonas’ Richtung sieht.
„Wie bitte?“, fragt Herr Geier, nachdem er sich wieder gefangen hat.   
„Ich sagte: Es reicht!“, antwortet Jonas bestimmt. „Ich sehe es nicht weiter ein, diesen Scheiß zu lernen. Diesen Satz des Prythagonas braucht nachher sowieso kein Schwein.“  
Herr Geier räuspert sich zunächst, bevor er erwidert: „Richtig heißt es: ‚Satz des Pythagoras‘. Und natürlich brauchst du den später in deinem Leben noch.“       
„Einen Scheiß brauch ich den. Ich will Influencer auf YouTube oder Twitch werden“, ruft Jonas, „da muss man so einen Quatsch nicht wissen.“
Er schleudert sein Mathebuch auf den Boden und packt sein Mäppchen ein. Dann steht er auf und ruft seinen erstaunt dreinblickenden Klassenkameraden zu: „Ich geh jetzt nachhause und mach Headshot-Training. Am Wochenende hab‘ ich wieder einen Streamingmarathon.“
Seine Mitschüler jubeln ihm zu. Einige werfen ebenfalls ihre Mathebücher auf den Boden.        
Plötzlich steht Johanna auf. Zunächst streicht sie noch zögerlich ihre Haare aus dem Gesicht, dann sagt sie laut und deutlich: „Ich gehe auch. Ich werde ab jetzt jeden Tag für das Klima streiken. Nur Fridays for Future reicht eben nicht aus. Wir müssen jeden Tag auf die Straße gehen, sonst checken die da oben gar nix mehr.“       
Jubelrufe aus dem Publikum. Herr Geier hat mittlerweile deutliche Schweißflecke unter den Armen. Die Situation ist ihm irgendwie entglitten.           
„Aber ihr könnt doch nicht einfach so der Schule fernbleiben“, stammelt er.     
Doch, sie könnten. Jonas, einige weitere aufstrebende YouTube-Stars und Johanna schultern ihre Taschen und verlassen – gefeiert wie eine siegreiche Fußballmannschaft – das Klassenzimmer. Paul ist sogar so dreist, sich im Treppenhaus eine Zigarette anzustecken.      
„Dem haben wir es gegeben!“, krakelt er, als sie draußen sind, und holt sein Smartphone raus. Das Display bleibt schwarz.             
„Verdammt, mein Akku ist tot“, flucht er.           
Doch er ist nicht der einzige, dessen Smartphone seine Dienste verweigert. Auch bei den anderen bleibt das Display schwarz.             
„Ist auch egal“, sagt Johanna und fährt fort: „Die Dinger zerstören eh nur den Planeten.“

Was die Gruppe der tapferen Revoluzzer nicht weiß, ist, dass Herr Geier, nachdem die Menschheit die Sache mit dem Klima in den Sand gesetzt hatte, eine Maschine erfand, mit der er rückwirkend alle Technischen Erfindungen unbrauchbar machte, die nur dank der Mathematik funktionierten. Alle, einschließlich seiner Erfindung.

Ende

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