Liebe Leserin, lieber Leser,
lange Zeit war es still auf dieser Webseite. Da aber nun aber bald – vielleicht sogar noch dieses Jahr – mein neues Buch erscheint, dachte ich mir, ich veröffentliche mal wieder etwas.
Ein guter Freund meinerseits – Mr Francis Rickenbacker – erlebte letztens eine schöne Feier. Von dieser Feier handelt die nun folgende Geschichte. Jede Woche gibt’s ein neues Kapitel. Los geht’s…

Sophia war schon immer eine Idealistin. Und genau das wurde ihr an diesem Tag zum Problem. Sie ist meine Cousine – meine Tante Cornelia war ihre Mutter – und wir kennen uns schon seit unserer Kindheit. Sophias Idealismus zeichnete sich bereits im Kindergarten ab, wenn sie die Bauklötze gerecht auf alle Kinder aufteilte oder allen solange untersagte, Bilder auszumalen, bis nicht auch der kleine Timo ein paar Buntstifte bekam. Dass Timo in Wahrheit viel lieber mit den Kuscheltieren spielen wollte, interessierte niemanden.
Im Alter von zehn Jahren verkündete Sophia, sie sei nun Vegetarierin. Keine zwei Jahre später konvertierte sie zum Veganismus – alles der Umwelt zur liebe, und weil sie es nicht ertrug, dass ihretwegen Lebewesen auf die grausamste Art ausgebeutet wurden. Wieso musste sie mir diesen Vortrag ausgerechnet halten, als ich gerade genüsslich ein Steak in mich hineinschaufelte?
Wie dem auch sei. Sophia besaß aus diesem Grunde auch kein Auto und mied Taxen, wo es nur ging, da sie es nicht aushielt, dass ein Fahrzeug nur ihretwegen giftige Abgase in die Umwelt pustete. Also fuhr sie Bahn, Bus und Rad oder ging schlicht alles zu Fuß. In Berlin konnte sie sich das erlauben, doch wenn größere Strecken zurückzulegen waren, kam sie ganz schön in die Bredouille. Und wieso musste Tante Henrietta ihren Geburtstag auch am Arsch der Welt feiern?
Sophia fuhr also mit dem Bus von Berlin raus aufs Land. Ihr Gepäck bestand aus einem fair gehandelten, biologisch abbaubaren Koffer, der aussah, als fiele er jeden Moment zusammen. Wenigstens könnte man ihn dann direkt an Ort und Stelle liegen lassen – denn ich bin mir sicher, dass Sophias Kleidung ebenfalls biologisch abbaubar ist.
Sophia rief mich von unterwegs aus an.
„Hallo Lieblingscousin“, sagte sie.
„Hallo Lieblingscousine“, erwiderte ich, was ein wenig unsinnig ist, da Sophia meine einzige Cousine ist.
„Kannst du mich in einer Viertelstunde an der Bushaltestelle abholen?“
„Hältst du es denn aus, dass ich extra für dich mit dem Auto fahre?“
„Es ist ja auch für Tante Henrietta“, sagte sie.
„Dann ist es wohl in Ordnung. Ich mache mich sofort auf den Weg. Sag mir nur noch, wo genau ich dich abholen soll.“
Sophia nannte die Haltestelle und ich machte mich auf den Weg.
Die Fahrt dauerte keine fünf Minuten, so dass mir noch Zeit blieb, eine Zigarette zu rauchen, bevor Sophia mir Vorwürfe machen konnte, ich zerstöre nicht nur mein Leben, sondern auch die Umwelt und vor allem die Natur in Südamerika.
Nach der Zigarette lutschte ich ein Pfefferminzbonbon, um den Geruch des Rauches zu überspielen. Ich kam mir ein bisschen vor wie damals in der fünften Klasse, als ich mit dem Rauchen angefangen hatte.
Das Bonbon hatte sich soeben in seine zuckrigen Bestandteile aufgelöst, da kam auch schon der Bus. Sophia war der einzige Fahrgast. Wir begrüßten uns herzlich und ich lud ihren Koffer in mein Auto. Als ich den Motor startete, schaltete Sophia die Klimaanlage aus und öffnete stattdessen das Fenster.
„Wenn du maximal 80 Stundenkilometer fährst, ist es besser, wenn du das Fenster offen hast. Außerdem produzierst du nicht so viel Kohlendioxid, wenn du langsamer fährst.“
„Aber ich bekomme einen steifen Hals“, sagte ich, schloss die Fenster wieder und schaltete die Klimaanlage an.
„Typisch Mann“, sagte Sophia und verdrehte die Augen.
„Wie geht es dir?“, fragte ich, um das Thema zu wechseln.
„Gut.“
Ich schielte auf den Beifahrersitz. Sophia war noch dünner geworden und sah schrecklich aus. Dass es ihr gut ging, konnte sie einem Deppen erzählen, der zu blöd wäre, aus einem Boot ins Meer zu pinkeln. Ich entschloss mich, nicht auf ihren Gesundheitszustand einzugehen.
„Was macht die Arbeit?“
„Die läuft super!“
Lüge Nummer zwo.
„Wenn alles klappt, kriege ich für mein nächstes Projekt eine Förderung vom Land. Vielleicht sogar eine vom Staat. Es wird super.“
„Was machst du zur Zeit?“
„Eine WiSim für Mobile“, sagte Sophia, als verstünde irgendjemand, was sie meinte.
„Ach so“, entgegnete ich nur. „Und worum geht es?“
„Ich entwickle eine Wirtschaftssimulation, bei der es darauf ankommt, den Planeten durch kluge Entscheidungen zu retten und auf der Welt eine gerechte und soziale Umverteilung der Ressourcen zu erreichen.“
„Okay.“
Sophia entwickelte Videospiele. Neben ihrem Idealismus in allen Dingen waren Computerspiele schon immer ihre Leidenschaft gewesen. Als ich sie einmal darauf hingewiesen hatte, dass man für die Herstellung von Computern auf Rohstoffe zurückgriff, die in ärmeren Ländern gewonnen wurden, warf sie mir Schlicht „Whataboutism“ vor. Ich musste das Wort erst einmal nachschlagen. Nachdem ich festgestellt hatte, dass es sich nur um eine bloße Rechtfertigungsausrede handelte, die gerne benutzt wurde von Leuten, die unethisch handelten, dachte ich mir, dass es die Luft zum Atmen nicht Wert sei, mich auf eine Diskussion mit Sophia einzulassen.
Aber ich schweife ab. Sophia bastelt also Computerspiele. Und sie erhält Fördergelder. Und aus unerfindlichen Gründen verliert sie permanent an Gewicht.
„Wie geht es Gloria?“, fragte Sophia.
„Gut. Sie sprüht vor Energie. Sie handelt immer noch mit irgendwelchen Dingen im Internet. Frag lieber nicht.“
„Und deine Tankstelle läuft gut?“
„Sehr gut sogar.“
Auf einer Skala der Verachtung von eins bis zehn erhalte ich von Sophia für meine Investition in eine Tankstelle mindestens eine neun. Aber sie arbeitet an sich und hat sich mittlerweile ganz gut im Griff.
„So, da wären wir“, sagte ich, als ich den Golf zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Parkplatz vor dem Schloss lenkte.
Sophia stieg aus und hatte sich, ehe ich ihr meine Hilfe anbieten konnte, schon ihren Koffer geschnappt.
„Danke fürs Abholen. Bis nachher“, sagte sie und verschwand nach drinnen.
Ich blieb noch neben dem Auto stehen und rauchte eine zweite Zigarette.
Was war nur los mit Sophia? Ich vermutete nicht, dass sie krank war. Sie hatte eher abgemagert gewirkt – fast so, als habe sie in letzter Zeit nichts gegessen. Dabei liebte sie es, zu essen. Schon als Kind hatte sie immer Unmengen verschlungen. Anfangs noch Wurst und Käse und Fleisch, später dann Salat und Salat und Salat. Aber sie hatte noch nie so ausgezehrt gewirkt. Vermutlich hatte sie einfach Stress auf der Arbeit und dabei das Essen vergessen. Ich würde sie am Abend im Auge behalten.
Gloria kam aus dem Schloss.
„Oskar, da steckst du. Ich habe dich überall gesucht.“
„Ich habe Sophia vom Bus abgeholt.“
„Das dachte ich mir schon. Aber jetzt komm rein. Du musst dich doch noch umziehen.“
Ich sah auf die Uhr. Es war mittlerweile kurz vor fünf. In einer Stunde sollte der ganze Zinnober losgehen. Ich warf meine Zigarette auf den Boden und zertrat sie mit dem Absatz. Dann ging ich mit Gloria nach drinnen.
„Was guckst du denn so nachdenklich?“, fragte sie.
„Es ist nichts. Nur Sophia macht mir ein wenig Sorgen.“
„Wieso?“
„Sie wirkt so gestresst.“
„Sie ist eine selbstständige Frau und groß genug, selbst auf sich aufzupassen.“
„Vielleicht sollte ich mal mit ihr reden.“
„Tu, was du nicht lassen kannst. Aber untersteh dich, Witze über ihren Lebensstil zu machen.“
„Ich doch nicht“, sagte ich lachend.
Wir hatten unser Zimmer erreicht.
„Jetzt zieh dich schnell um und dann ab nach unten“, wies Gloria mich an.
„Ich dusche vorher nochmal.“
„Schon wieder?“
„Ich will eben glänzen für meine Tante.“
„Dann beeil dich.“
Ich ging ins Bad und duschte. Als ich wieder ins Schlafzimmer kam, hatte Gloria bereits ihr Kleid angezogen. Sie sah einfach nur wundervoll aus. Ich würde neben ihr wie ein billiger Abklatsch von einem gut gekleideten Mann wirken. Trotzdem schlüpfte ich in meinen Anzug, band mir die Krawatte um und besah mich dann im Spiegel. Sah ich gestresst aus? Höchstens ein bisschen.