Bevor es mit dem Maulbeerbaum weitergeht, gibt es eine kurze Wasserstandsmeldung zum neuen Roman: Ich war damit beim Metzger (oder Schlächter, wenn man so will). Es wurden in einer vierstündigen Session alle überflüssigen Fettschichten entfernt. Das komplette Ende wurde durch den Fleischwolf gedreht. Jetzt muss ich alles erst einmal wieder zusammensetzen. Ist auch wichtig.
Im Heim lernte
Jojakim dann auch seine spätere Frau Maria kennen. Jeden Abend, wenn er einsam
in seinem Stockbett lag, kam sie zu ihm gekrochen. Er träumte sie herbei.
Mariam mit ihren dunklen Locken und ihrer weißen Haut. Er träumte von ihr, wie
er sie als Kind kennen lernte und sie eine gemeinsame sorglose Kindheit
durchlebten. Wie er sie in der Schule gegen die üblen Kerle aus den höheren
Klassen verteidigte. Er träumte von ihrem ersten Kuss, wie er sich zögernd
ihrem Mund genähert hatte. Jedes Mal, wenn er daran zurückdachte, sich dorthin
träumte, pochte sein Herz laut in seiner Brust. Vor Aufregung, vor Freude, aber
niemals vor Trauer darüber, dass dies alles nie stattgefunden hatte.
Je öfter Jojakim von Mariam träumte, desto realer wurde sie. Und so kam es ihm
ganz natürlich vor, als er sie eines Tages auf der Schaukel des kleinen
Spielplatzes neben dem Heim traf. Jojakim schlenderte zu ihr rüber, umarmte sie
zur Begrüßung und setzte sich neben sie auf die Schaukel. Dann schwiegen sie
gemeinsam. Sie hatten sich nichts zu sagen, da sie einander auswendig kannten.
Sie saßen nur stumm da und genossen die Anwesenheit des jeweils anderen.
Als er abends wieder in seinem Bett lag, kam Mariam wieder zu ihm. Sie
schmiegte sich an ihn und er nahm ihre Wärme auf. Wieder durchlebten sie ihre
gemeinsame Jugend. Jedes Mal ein wenig detailreicher. Jedes Mal ein wenig
weiter in die Zukunft hinein. Sie gingen jetzt beide schon in die höheren
Klassen und standen kurz vor dem Abitur. Jojakim wollte auf jeden Fall
Literatur studieren. Mariam, die eher praktisch veranlagt war, wollte nicht
weiter an die Universität gehen, sondern gleich beim Militär bleiben. Sie
würden sich schon irgendwie engagieren, wenn sie zu Einsätzen im ganzen Land
beordert würde.
Tagsüber traf Jojakim Mariam wieder auf dem Spielplatz. Sie saßen erst
schweigend nebeneinander, dann gingen sie gemeinsam runter in die Stadt. Mariam
brauchte neue Kleider und da Jojakim ein wenig Geld verdient hatte, kaufte er
sie ihr. Sie sah himmlisch aus in diesem blauen Kleid und in der weißen Bluse.
Jojakim erfreute sich so sehr an ihrem Anblick, dass es ihm nichts ausmachte,
all sein Geld ausgegeben zu haben. Er hatte, was er wollte und das konnte ihm
niemand nehmen.
In dieser Nacht schliefen sie das erste Mal miteinander. Dazu träumte Jojakim
sich in ein gemeinsames Hotelzimmer. Niemand im Heim bekam mit, dass er nicht
in seinem Bett lag, als er in seinem Bett lag. Er war ganz bei Mariam, kannte
jede Stelle ihres Körpers, jeden Moment ihres Lebens, jeden Wesenszug ihrer
Seele. Und nach dieser Nacht war ihm klar, dass er sie heiraten musste.
Die Hochzeit fand an einem schönen Sommertag draußen unter freiem Himmel statt.
Es waren nur die engsten Freunde und Verwandte eingeladen. Mariam Großmutter
Hanna hatte ihrer Enkelin ein wunderschönes Hochzeitskleid vererbt. Mariams
Eltern hatten ein kleines Büfett bereitet und ganz hinten in einer Ecke saß
Jojakims Mutter Susanna.
Nach der Trauung tanzten sie die ganze Nacht. Jojakim mit Mariam, mit ihrer
Mutter, mit seiner Mutter. Mariam mit ihrem Vater. Nur Jojakims Vater bekam von
all dem nichts mit. Er saß hinter Gitter für den Mord an der Frau, mit der sein
Sohn durch die Nacht tanzte.
Als Jojakim am nächsten Morgen erwachte, war er schweißgebadet, so sehr hatte
er getanzt. Er war noch so in seinem Traum – seinem Leben – gefangen, dass er
auf dem Weg zum Waschraum beinahe mit Thomas zusammengestoßen wäre.
„Mensch, pass doch auf!“, fauchte Thomas. Er sah verwundert hinter Jojakim her.
War das nicht der Junge, mit dem er früher die Straßen unsicher gemacht hatte?
Der Typ, der sich mit diesem Spinner Micha unterhalten hatte?
Jojakim ging in den Waschraum und genoss die gemeinsame Dusche mit seiner Frau.
Er würde ihr nachher einen Kaffee kochen und dann am Abend mit ihr nach Paris
fliegen, um dort in die Oper zu gehen.
Obwohl die anderen Jungen Jojakim noch wahrnahmen, sah er sie nicht mehr. Er
sah nur noch Mariam. Überall tauchte sie auf. Und als er ihr eines Tages unten
im Keller begegnete – Jojakim versteckte sich gerade vor einigen der größeren
Jungen – bemerkte er das erste Mal, dass sie sich verändert hatte. Die
Veränderung war innerlich und äußerlich von statten gegangen. Mariam strahlte
von innen heraus. Sie strahlte Liebe aus jeder Pore ihres Körpers. Ihre Augen
strahlten, als seien sie Sonnen, die in einem seltsamen Sonnensystem auf einen
Planeten herabschienen. Und Mariam hatte sich äußerlich verändert. Sie hatte
größere Brüste bekommen und ihr Bauch war ein wenig dicker geworden. War es
möglich, dass…
„Ich bin schwanger!“, sagte sie, als hätte sie die Frage in Jojakims Kopf
gelesen, oder als sprudelte diese Neuigkeit vor Freude aus ihr heraus. „Wir
bekommen ein kleines Baby!“
Jojakim standen die Tränen in den Augen. Er wusste nicht, was er sagen sollte,
und so umarmte er seine Frau nur still. So standen sie eine Weile da und ihm
schossen tausend Gedanken durch den Kopf (was würde aus Mariams Kariere bei der
Armee) und Jonas, der in den Keller gekommen war, um einige Kohlen nachzulegen,
wunderte sich über den Spinner, der wie in Trance einsam und allein in der Ecke
stand und die Wand anstarrte.
Sie kauften ein kleines Kinderbettchen, Strampler, einen Wickeltisch und vieles
mehr. Die ganze Wohnung stand voll von Kartons mit Geschenken ihrer
Verwandtschaft. Alle hatten eine Glückwunschkarte geschrieben und waren zur
Geburt des kleinen Moses erschienen. Jojakim hielt seinen Sohn stundenlang in
den Armen und betrachtete ihn voller Faszination über das kleine Wunder des
Lebens. Er entdeckte immer neue Merkmale an ihm – die kleinen Falten auf seiner
Stirn, die winzigen Finger, die schon so fest zugreifen konnten – und so liebte
er ihn immer mehr.
Während Mariam ihn stillte, putze Jojakim die Wohnung. Er verdiente als
Literaturkritiker des Fernsehens zwar genug Geld, dass sie sich eine Putzfrau
hätten leisten können, doch er wollte niemanden sonst in ihrem Leben haben. Es
sollte nur noch sie drei geben.
Und so gab es keine Chance für Jojakim, als er eines Tages in dem Abklatsch
seiner Welt durch einen puren Zufall – einer der Erzieher hatte ihn zum
Einkaufen geschickt, weil ein anderer Junge krank geworden war – Elisabeth
kennen lernte, die auf die selbe Schule ging wie er und die ihm zulächelte, die
ihn süß fand mit seinen dunklen Haaren. So kam es, dass er wieder nach Hause
kam, mit Windeln für das Baby, Karottenbrei und einem Strauß Blumen für seine
Frau und Jojakim erwachte erst wieder, als er bei einem Spaziergang mit seiner
Familie seinen Vater traf, den man wegen guter Führung vorzeitig entlassen
hatte.
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