Es geht auf die Zielgerade. Viel Spaß beim Lesen. (Buchupdate: Es leben jetzt noch ca. 62000 Wörter.)

Es war ein heißer Nachmittag und Jojakim schlenderte mit Mariam Hand in Hand durch die Straßen. Sie liebten beiden die kleinen Seitengassen viel mehr als die überlaufenen Hauptstraßen. Gerade hatte Jojakim in einem kleinen Laden eine Holzschnitzfigur für seinen Sohn gekauft – Mariam trug ihn auf den Rücken gebunden –, da sah er ihn. Jojakim konnte seinen Augen nicht trauen, als er den Mann, der ihn als kleiner Junge so gequält, und den er dennoch so geliebt hatte, in einem kleinen Café sitzen sah. Zacharias hatte eines Tasse Espresso, wie in die Südeuropäer bevorzugen, vor sich stehen. Jojakim wollte gerade Mariam auf seinen Vater aufmerksam machen, als er neben sich ein Klirren vernahm. Es klang, als sei eine kleine Porzellantasse zu Boden gefallen, oder als habe eine dünne Glasscheibe auf einmal einen Sprung bekommen. Jojakim drehte sich zu Mariam um und erstarrte, als er sah, wie sie wie ein Scherbenhaufen in sich zusammenfiel und sogleich fielen die Schuppen von seinen Augen und er erkannte, dass sein Leben, wie er es kannte, nichts weiter war als ein immer wieder und wieder geträumter Traum. Sein Sohn Moses hatte sich schon in Luft verwandelt und ganz langsam, wie in Zeitlupe, verschwand nun auch Mariam. Die einzelnen Scherben zerfielen zu Staubkörnern, die der Wind davontrug. Jedes Detail ihres makellosen Körpers, dass er sich in den letzten Jahren ausgemalt hatte, verblasste zu nichts, zu einer Erinnerung an ein Leben, dass nie eines gewesen war. Alles, was jetzt noch war, war sein Vater Zacharias, der – ohne es zu wissen – ein weiteres Mal Jojakims Leben zerstört hatte.
Dafür musste er büßen.
Jojakim wollte mit heiligem Zorn auf ihn zu rennen und ihm am liebsten den Schädel einschlagen, doch der gleiche Zorn, der ihn wünschen ließ, seinen Vater zu töten, hielt ihn nun zurück. Wie gelähmt stand Jojakim an der Kreuzung und beobachtete den Mann, der ihm alles genommen hatte. Er würde ihn töten, das stand fest. Aber er würde es nicht jetzt tun. Er würde warten und es zu gegebener Zeit tun. Vorher würde er herausfinden, wo sein Vater lebte.
Jojakim stellte sich so hinter eine Hausecke, dass er vom Café aus unmöglich zu sehen war. Immer wieder schielte er um die Ecke, um nachzuschauen, ob sein Vater noch dort säße. Als dieser nach einer Zeit, die Jojakim wie ein Jahr vorkam, endlich aufstand, folgte Jojakim ihm. Er ließ immer genügend Abstand zu seinem Vater und es gelang ihm, herauszufinden, wo er wohnte, ohne bemerkt zu werden.
Zacharias wohnte in einem heruntergekommen Häuserblock, in dem viele ehemalige Sträflinge untergebracht wurden. Jojakim merkte sich die Hausnummer. Er würde sich zunächst überlegen, wie er seinen Vater umbringen wollte. Dann würde er wiederkommen und darauf warten, dass sich eine günstige Gelegenheit ergab.
Er wandte sich von dem Haus seines Vaters ab und schlug die Richtung zu seinem Heim ein. Auf dem Weg dort hin schlenderte er wieder durch die engen Gassen, stets in der Hoffnung, einen klaren Kopf zu bekommen. Und in der Hoffnung, dort Mariam zu begegnen. Er wollte sein altes Leben wiederhaben. Wenigstens eines der beiden.
Als er an einem Kramladen vorbeikam, wurde er stutzig. Im Schaufenster waren einige der Waren ausgestellt. Darunter auch ein alter Revolver, den wohl einmal jemand bei einem Pfandleiher eingelöst hatte. Es war nicht exakt das Model, mit dem sein Vater ihn früher immer gequält hatte, doch die Ähnlichkeit war verblüffend. Jojakim blieb vor dem Schaufenster stehen und sah interessiert nach dem Preis, obwohl im klar war, dass niemand ihm eine Waffe verkaufen würde. Aber er musste sie ja nicht kaufen. Er musste nur schnell genug sein. Und das Terrain kannte er wie kein zweiter. Zu oft war er mit Mariam…
Er betrat den Laden. Man konnte von hinten ins Schaufenster greifen. Lediglich ein wackliges Regal trennte das Fenster vom Innenraum des Ladens ab. Jojakim sah sich im Laden um. Es waren keine Kunden da und der Verkäufer saß gemütlich hinter seinem Tresen und las in einer Zeitung. Jojakim holte tief Luft. Dann stieß er das Regal um, griff blitzschnell nach der Waffe und rannte aus dem Geschäft nach draußen. Vor der Tür prallte er gegen eine alte Frau, die soeben die kleine Treppe hochstieg. Das alles ging so schnell, dass der Verkäufer nicht einmal die Zeit hatte, laut aufzuschreien und hinter Jojakim herzurennen.
Draußen war die Luft immer noch drückend heiß und Jojakim musste schon nach ein paar Metern keuchend nach Luft schnappen. Er zwang sich, nicht zu rennen, sondern nur zügig zu gehen. Dabei bog er jede zweite Straße ab, um so eventuelle Verfolger in die Irre zu führen. Doch niemand folgte ihm. Und so kam er eine knappe Stunde später im Heim an.
Er ging hinunter in den Keller und versteckte die Waffe hinter einem Stapel Gerümpel. Jetzt musste er nur noch an Munition kommen. Doch er wusste schon, wo er sich die beschaffen konnte. Der einzige, von dem er wusste, dass er eine Schusswaffe besaß, war der Heimleiter Achmet. Der alte Kauz hatte immer behauptet, die brauche er, um sich gegen die wirklich üblen Typen – er hatte ihnen nie gesagt, wen er damit meinte – zur Wehr zu setzen. Das einzige Problem war, dass Jojakim dazu in Achmets Büro einbrechen musste. Sollte er dabei erwischt werden, flöge er direkt aus dem Heim, ohne die Gelegenheit, seine sieben Sachen zusammenzupacken. Er durfte einfach nicht erwischt werden.
Während des Abendessens tat er so, als sein ihm speiübel. Er erbat sich, zur Toilette gehen zu dürfen.
„Komm aber sofort wieder“, rief ihm der Pfleger noch hinterher.
Jojakim ging nicht zur Toilette, sondern schlich die alte Treppe nach oben zu Achmets Büro. Die Holzdielen knarzten bei jedem Schritt und Jojakims Herz pochte so laut, wie es zuletzt bei seinem ersten Kuss gepocht hatte. Nur, dass die hier real war. Realer.
Die Tür zu Achmets Büro stand offen, so dass er noch nicht einmal einbrechen musste. Er huschte in das kleine Büro und schloss die Tür hinter sich. Er hatte nur Gerüchte gehört, Achmet besäße eine Pistole, wusste aber weder, um welchen Typ es sich handelte – genau genommen, war er sich noch nicht einmal darüber im Klaren, dass es verschiedene Munitionstypen gab – noch wo die Waffe deponiert sein würde. Mit der Hoffnung, dass alle Männer ihre Waffen so unvorsichtig lagerten wie sein Vater, öffnete Jojakim die Schreibtischschublade. Achmets Schublade war ebenfalls nicht verschlossen. Doch sie enthielt keine Pistole. Jojakim wollte sie schon enttäuscht wieder schließen, als er die Patronen sah. Es waren zwei. Hastig nahm er sie beide und steckte sie in seine Hosentasche. Dann eilte er aus dem Büro und ging leise nach unten in den Speisesaal zurück.
„Das hat aber ziemlich lange gedauert“, sagten die anderen und Jojakim antwortete mit Schweigen. Er setzte sich stumm wieder an seinen Platz und aß brav seine Falafel.
Vor lauter Aufregung bekam er kaum einen Bissen herunter. Er war sich jetzt sicher, dass er morgen seinen Vater erschießen würde. In nicht einmal vierundzwanzig Stunden würde er den Mann töten, der…
„Erde an Jojakim!“
Achmet rüttelte ihn an der Schulter und Jojakim sackte das Herz in die Hose. Wie hatte Achmet nur so schnell feststellen können, dass er bei ihm eingebrochen war?
„Du bist heute dran mit Tischabwischen. Mach verdammt nochmal schnell, heute wird früh geschlafen!“
Jojakim nickte nur. Dann stand er langsam auf, nahm sich den Eimer und den Lappen und wischte über die Tische. Er tat dies gründlich, wollte er doch keinen weiteren Ärger provozieren. Nach zehn Minuten war er fertig. Er ging hoch in sein Zimmer, zog sich aus und legte sich ins Bett. Er schloss die Augen, konnte jedoch nicht einschlafen. Das erste Mal seit Jahren lag er allein in dem Bett, dass er mit seiner Frau geteilt hatte. Er versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen, doch was früher so gut funktioniert hatte, wollte einfach nicht klappen. Es gelang Jojakim nicht, wieder in seine Welt abzutauchen, aus der Realität aufzutauchen.
Immer wieder ging er den morgigen Tag durch und über dem sich wiederholenden Pläneschmieden schlief er doch endlich ein.
Der nächste Morgen weckte ihn mit freundlichen Sonnenstrahlen. Jojakim stand leise auf, zog sich an und verließ das Zimmer, ohne einen der anderen Jungen zu wecken. Er schlich hinunter in den Keller und holte die Pistole aus ihrem Versteck. Jojakim lud die zwei Patronen in die Trommel – sie passten tatsächlich – und schob sich den Revolver unter seinem T-Shirt in den Gürtel. Er kam sich vor wie einer der Gangster aus den Filmen, die er zusammen mit Miriam…
Jojakim verließ das Heim und ging zielstrebig auf das Haus seines Vaters zu. Dort stellte er sich an die gegenüberliegende Straßenecke und behielt die Tür im Auge. Er wartete. Nach einer Stunde schmerzten seine Füße, so dass er sich auf den noch kalten Steinboden setzte. Als ihm schließlich beide Beine einzuschlafen drohten, stand er wieder auf und trat von einem Bein aufs andere. Während er so seine Konzentration hochhielt, ging er immer wieder aufs Neue die Konfrontation mit seinem Vater durch. Sollte er ihn zuvor noch zur Rede stellen? Oder sollte er ihn einfach hinterrücks niederschießen? Er war sich sicher, dass er ihm zuvor noch in die Augen blicken wollte. Es war der Augenblick, auf den er jetzt schon so viele Jahre wartete.
Jojakim wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen, als Zacharias zur Tür heraustrat.