Liebe Leserin, lieber Leser,
lange Zeit war es still auf dieser Webseite. Da aber nun aber bald – vielleicht sogar noch dieses Jahr – mein neues Buch erscheint, dachte ich mir, ich veröffentliche mal wieder etwas.
Ein guter Freund meinerseits – Mr Francis Rickenbacker – erlebte letztens eine schöne Feier. Von dieser Feier handelt die nun folgende Geschichte. Jede Woche gibt’s ein neues Kapitel. Los geht’s…

Natürlich gab es den ganzen Abend lang kein anderes Gesprächsthema als Tante Henriettas Heirat und die Tatsache, dass sie offensichtlich den Großteil ihres Vermögens armen Kindern zugutekommen lassen wollte. Ich hatte kein Interesse daran, mich an dieser müßigen Diskussion zu beteiligen. Viel lieber würde ich noch ein weiteres Glas Rotwein trinken, doch ich fürchtete, dass mein Magen da anderer Meinung wäre als mein Geist. Also lehnte ich mich einfach auf meinem Stuhl zurück und beobachtete die Leute, die sich angeregt unterhielten.
Der Konzertflügel – oder wie auch immer das Ungetüm hieß, dass dort in der Ecke stand – war mittlerweile in Betrieb genommen. Ein Kerl im Anzug saß auf einer kleinen Bank davor und spielte gefühlvoll, wobei er ständig mit dem Oberkörper vor und zurück wogte. Ein paar der Gäste hatten sich von der Musik inspirieren lassen und waren am Tanzen. Ich hatte zu befürchten, dass Gloria demnächst ebenfalls auf die glorreiche Idee kommen würde, das Tanzbein zu schwingen.
Es war nicht Gloria sondern Sophia.
„Magst du mit mir Tanzen, Oskar?“, fragte sie mich.
Ich stand auf, nahm ihre Hand und führte sie dorthin, wo vor einer Stunde noch das herrliche Wildgulasch gestanden hatte. Welch Verschlechterung.
Der Pianist spielte einen ruhigen Walzer. Anfängerkram. Das kam mir sehr recht, denn mich als Anfänger zu bezeichnen, wäre noch die Übertreibung des Jahres. Oder wäre es eine Untertreibung? Der Wein verwirrte meinen Geist.
Wir verknoteten also unsere Gliedmaßen und bewegten uns rhythmisch in Kreisen übers Parkett. Außer uns sah ich noch Annabelle, die mit dem altmodisch gekleideten Herrn tanzte. Ich musste unbedingt in Erfahrung bringen, wie sein Name war.
„Aua“, sagte Sophia plötzlich.
Ich hielt inne, die Welt um mich herum drehte sich weiter.
„Was?“, fragte ich.
„Du bist mir auf den Fuß getreten“, sagte sie lachend.
„Das tut mir leid. Vielleicht probieren wir es mit was einfacherem.“
„Leichter als Walzer? Wir könnten uns im Stehen versuchen.“
Jetzt grinste sie auch noch spöttisch.
„So viel Wein, wie ich intus habe, dürfte sogar das schwer werden.“
„Wenn du magst, können wir aufhören.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, jetzt wird getanzt.“
Ich nahm ihre Hände und wirbelte motiviert drauf los und landete prompt auf ihrem anderen Fuß.
„Aua!“, sagte sie jetzt etwas lauter.
Hatte der Pianist etwa gegrinst?
„Ich glaube, du suchst dir besser einen anderen Tanzpartner“, sagte ich.
„Darf ich dir meinen anbieten?“, fragte Annabelle, die neben uns zum Stehen gekommen war.
„Wie bitte?“, fragte ich.
„Ich fragte, ob ich Ihnen“, sie deutete auf Sophia, „meinen Tanzpartner anbieten darf. Ich kann nämlich nicht mehr und ich glaube, Franni hat noch nicht genug.“
„Er mag es vor allem nicht, wenn man ihn Franni nennt“, sagte Mister Vierzigerjahreanzug.
„Wenn du nichts dagegen hast“, sagte Sophia an mich gewandt.
„Nein, nein. Das ist kein Problem. Bevor ich dir noch eine ersthafte Verletzung zufüge, sollte ich wohl besser einem guten Tänzer Platz machen.“
Wir entknoteten uns und ich stolperte einen Schritt zur Seite. Annabelle hielt mich am Ellbogen fest.
„Hey, fall mir mal nicht hin, Oskar“, sagte sie.
„Ich glaube, ich brauch mal einen Kaffee“, sagte ich.
„Dann holen wir dir mal einen. Komm, ich trinke sogar mit dir.“
Annabelle führte mich zur Kuchentheke, die in der Zwischenzeit von irgendeinem netten Geist in einer Ecke des Raums aufgebaut worden war, und goss zwei Tassen Kaffee ein.
„Weißt du, was du außerdem brauchst?“, fragte sie.
Ich antwortete, indem ich mit glasigem Blick in die Luft starrte.
„Du brauchst frische Luft. Komm, wir gehen nach draußen.“
Ich würde viel lieber an meinen Tisch gehen, oder wenigstens vorher meine Zigaretten holen. Doch Annabelle zog mich einfach mit.
Sie war viel jünger als ich – gerade mal zwanzig Jahre alt – und studierte noch Sozialpädagogik. Wenn man reich werden will, studiert man Sozialpädagogik. Wie genau der Verwandtschaftsgrad zwischen uns ist, kann ich überhaupt nicht sagen. Ich weiß nur, dass Annabelle auf irgendeiner Familienfeier – Weihnachten oder Ostern – kreischend in meinem Zimmer gesessen hatte und mit Kuscheltieren nach meiner Modelleisenbahn geworfen hatte. So entstehen Freundschaften fürs Leben.
„Kann es sein, dass du zu viel getrunken hast, Oskar?“, fragte sie mich.
„Das dürfte im Bereich des Möglichen liegen.“
„Der Wein ist aber auch zu gut.“
„Sündhaft gut.“
Wir lehnten uns an das Geländer der Veranda und tranken unseren Kaffee.
„Woher kennst du ‚Franni‘?“, fragte ich.
Sie lächelte.
„Vom Essen. Was dachtest du denn? Dass ich mir einen alten Knacker angelacht hätte? Franni ist doppelt so alt wie ich.“
Ich hob beschwichtigend meine freie Hand, merkte jedoch sofort, dass das keine so gute Idee war. Ich hielt mich lieber noch einen Moment am Geländer fest.
„Er sitzt am selben Tisch wie ich. Wir haben uns unterhalten. Er ist Privatdetektiv. Sehr interessant. Er hat mal irgendwen für Tante Henrietta aufgespürt. So genau wollte er mir das nicht sagen. Ich glaube, er hat nicht gemerkt, dass mir das aufgefallen ist, aber er weicht all meinen Fragen einfach aus.“
„Soso. Ein Detektiv. Das gefällt dir, oder?“
Annabelle lächelte.
„Das ist jedenfalls spannender, als mit einem Tankwart zu tanzen.“
Sie knuffte mich in die Seite.
„Sag nichts gegen meine Zunft. Wir Tankwarte sind helle Köpfchen. Vor allem, wenn wir Feuer und Flamme sind.“
Eine Grillenfamilie im Ginsterstrauch neben uns lachte über meinen blöden Witz.
Wir sahen schweigend in die Dunkelheit.
„Was ist eigentlich mit Gloria los?“, fragte Annabelle plötzlich unvermittelt.
„Was soll schon mit ihr los sein?“, fragte ich.
„Du weichst mir aus. Und du bist darin noch schlechter als Franni. Also, was ist mir ihr los?“
„Ich weiß es auch nicht.“
„Ich glaube, sie heckt was mit Tom aus“, sagte Annabelle.
„Wer weiß. Vielleicht haben die beiden noch eine Überraschung für Tante Henrietta vorbereitet, von der wir alle nichts wissen sollen.“
„Du bist ja leichtgläubig.“
„Ich bezeichne mich gerne als naiv aber glücklich.“
Die Tür ging auf und wir drehten uns um.
„Wenn man vom Teufel spricht“, sagte Annabelle.
Tom und Magnus traten heraus. Sie gesellten sich zu uns und Magnus zückte eine Schachtel Zigaretten. Endlich.
„Nein danke“, sagte Annabelle. „Mir ist sowieso kalt geworden. Ich geh wieder rein.“
Ich wollte ihr nach drinnen folgen, doch Tom hielt mich zurück.
„Warte noch einen Moment, Oskar. Magnus will dir was zeigen“, sagte er.
Also wartete ich.