Heute gibt es einmal einen etwas ernsteren Text (genaugenommen, läute ich hiermit die Wochen der ernsten Texte ein). Weihnachten steht vor der Tür und alle Familien treffen sich, essen gemeinsam und überreichen einander Geschenke. Doch leider gibt es auch Familien, in denen das nicht mehr möglich ist. Diesen Familien widme ich den folgenden Text.

„Wo zum Henker ist der große Weihnachtsstern?“, hast du immer gefragt. Gefunden hast du ihn nie. Und deshalb haben wir jedes Jahr einen neuen gebastelt. Nach dem Fest wanderte der dann in die Tonne. Du konntest die Hoffnung einfach nicht aufgeben, im nächsten Jahr den Stern deiner Kindheit auf dem Dachboden zwischen all den anderen Kisten zu finden.
Jetzt stehe ich auf den Zehenspitzen und versuche, mit ausgestreckten Armen den neuen Stern am oberen Ende der Tanne zu befestigen. Ich werde ihn nach dem Fest wieder wegwerfen und nächstes Jahr nach dem echten Weihnachtsstern suchen.
Alles scheint wie immer. Doch der Schein trügt, denn obwohl dein Geschenk neben all den anderen unterm Baum liegt, ist seit Wochen nichts mehr wie immer. Früher war es so einfach, für dich ein Geschenk auszusuchen. Jedes Jahr kam eine neue Puppe hinzu, später Bücher oder schicke Schuhe. Als du langsam erwachsen wurdest, hatten dein Vater und ich immer größere Probleme, das passende Geschenk zu finden. Was sollte man einer Tochter schenken, die dank ihres Jobs bereits alles besaß?
Dieses Jahr liegt ein neuer roter Bademantel für dich unter dem Baum. Rot, wie dein Haar. Rot, wie dein Lieblingskleid. Rot, wie dein Auto.
In meiner Brust wächst wieder ein Kloß an, wie in der Nacht, in der du nicht nachhause gekommen bist. Ich habe das Gefühl, mein Herz würde platzen. Nicht vor Freude, sondern vor Schmerz. Dieser nichtendende Schmerz.
Meine Glieder werden wieder taub. Genauso, wie in der Nacht, als du es nicht mehr geschafft hast, deine Schuhe in den Flur zu stellen, als Zeichen, dass du sicher angekommen bist. Als du es nicht geschafft hast, deinen Corsa sicher ans Ziel zu lenken. Wie schon unendliche Male zuvor, die immer gleiche Straße, das immer gleiche Auto.
„Wahrscheinlich ein Sekundenschlaf“, meinte die Polizei. Nach einer schrecklichen Sekunde schläfst du jetzt für immer. Und wir, dein Vater und ich, wir feiern dieses Jahr Weihnachten ohne dich. Das erste von vielen.

Ende