Ein weiser Mann behauptete einst, es täte gut, seine Figuren die Kontrolle verlieren zu lassen. Ein hochnäsiger Mann entgegnete hingegen, ein solcher Kontrollverlust sei stets nur ein „scheinbarer Kontrollverlust“, da der Autor ja als Gott seiner Welt stehts die Zügel in der Hand halte. Wie dem auch sei. Bärbel hat definitiv die Kontrolle über ihr Leben verloren und ich hatte definitiv keine Zeit, die Geschichte zu überarbeiten. Ich finde sie trotzdem gut. Nicht hervorragend, aber gut. Das muss reichen.
Bärbel erhängte
sich vor knapp fünf Minuten. Sie tat dies nicht etwa, weil sie ihres Lebens
überdrüssig geworden wäre. Nein, Schuld waren ihre Großmutter (im doppelten
Sinne) und in gewisser Weise der Umstand, dass Bärbel vor geraumer Zeit die
Kontrolle über ihr Leben verloren hatte. Aber der Reihe nach.
Alles fing damit an, dass Timo eines Morgens aufwachte und meinte: „Ich will
nicht mehr mit dir zusammenleben, du ekelst mich an!“ Sprachs, kochte sich noch
einen letzten Kaffee in der kleinen Küche und verließ für immer Bärbels Leben.
Bärbel war wie vor den Kopf gestoßen. Sie rief Tanja an und Jenny und Barbara,
doch niemand hatte Zeit für sie. Laura teilte ihr sogar mit, sie wolle nichts
mehr mit ihr zu tun haben. Und so blieb Bärbel nichts anderes übrig, als vor
lauter Zorn das gesamte Mobiliar der Küche zu Kleinholz zu verarbeiten.
Gerade als sie mit der Spüle beschäftigt war (das verdammte Ding war überaus
widerstandsfähig), kam Bärbels Großmutter Ingeborg zur Tür herein.
„Aber Schätzchen, wie sieht es denn hier aus? Wurde bei euch eingebrochen?“
Bärbel, die bei all dem Aufstand keine Träne vergossen hatte, schüttelte mit
dem Kopf. „Das war ich. Weil ich wütend bin.“
„Aber auf wen bist du denn wütend?“, fragte die Oma.
„Auf alle. Und am meisten auf Timo. Der Drecksack hat mich heute Morgen
verlassen. Einfach so. Er hat gemeint, ich sei zu eklig!“ Bärbel redete sich
jetzt in Rage. Sie schrie beinahe. „ZU EKLIG! STELL DIR DAS DOCH MAL VOR!“
Ingeborg, die noch nie viel von Timo gehalten hatte, versuchte ihre Enkelin zu
beruhigen. „Jetzt komm erst mal runter. Weißt du was, ich koch uns mal einen
Tee. Der beruhigt die Nerven.“
Ingeborg nahm den Wasserkocher, der unter den Trümmern des Hängeschranks lag,
und füllte ihn mit Wasser. Es dauerte einen Moment, bis das Wasser heißt genug
war. Während sie wartete, räume Ingeborg das Schlachtfeld auf. Ganz mechanisch,
so wie sie es immer getan hatte, wenn sie irgendetwas in Unordnung vorgefunden
hatte.
Mit ihren Tees gingen sie nach nebenan ins Wohnzimmer, das Bärbel sich für eine
mittägliche Ausrasterrunde aufgespart hatte. Sie setzten sich auf das kleine
Sofa und Ingeborg zauberte aus ihrer Handtasche ein Garn Wolle und zwei
Stricknadeln und begann zu stricken. Dabei plapperte sie drauf los.
„Weißt du, vielleicht kannst du diese Situation auch als einen Neuanfang
betrachten. Ich mochte den Knaben ja nie so wirklich. Und jemand wie du, der
findet doch bestimmt schnell einen neuen. Wie heißt es doch so schön: Es gibt
für jeden Topf einen Deckel.“
Bärbel sagte zu all dem nicht, sondern starrte nur fasziniert auf die schnell
hin und her huschenden Stricknadeln und den darunter entstehenden Schal.
„Darf ich das auch mal probieren?“, fragte sie.
Ingeborg, die zunächst nicht verstand, was ihre Enkelin meinte, sagte nur:
„Gerne. Pass aber auf, dass du die Maschen nicht verlierst.“
Es war einer dieser Augenblicke, in denen man feststellte, dass es Dinge gab,
die man nie verlernte, wie etwa das Fahrradfahren. Ganz offensichtlich gehörte
Stricken auch dazu. Bärbel fing erst vorsichtig und in einem Tempo, das man
wahrhaftig als Schneckentempo bezeichnen konnte, an, die einzelnen Maschen zu
knüpfen. Dann wurden ihre Bewegungen immer schneller, bis sie beinahe das Tempo
ihrer Großmutter erreichte.
Sie strickte und strickte und strickte und vergaß so fast, dass ihre Großmutter
zu Besuch war. Erst, als sie innehalten musste, weil ihr nun doch eine der
Maschen von der Nadel gefallen war, wurde ihr klar, dass sie die letzten zwei
Minuten gestrickt hatte, ohne ein Wort zu sagen, ohne zornig zu sein, ohne an
Timo zu denken.
„Kann ich das behalten?“, fragte sie und ihre Großmutter nickte.
„Ich geh dann jetzt mal. Wenn du noch einmal jemanden zum Reden brauchst, melde
dich bitte bei mir.“
Doch Bärbel hörte schon nicht mehr zu. Sie war wieder ins Stricken vertieft.
Am Nachmittag
war die mitgebrachte Wolle der Großmutter aufgebraucht. Deshalb ging Bärbel in
den örtlichen Handarbeitsladen und kaufte sich einen riesigen Berg an Wolle.
Wieder zu Hause angekommen, strickte sie wie wild drauf los. Sie versuchte sich
an einem Topflappen, einem Pullover, Socken, Legwarmern und dergleichen,
stellte jedoch schnell fest, dass sie am besten Schals stricken konnte. Und so
strickte sie einen Schal nach dem nächsten. Breite Schals, lange, kurze,
Rundschals, welche mit Fransen, gestreifte, einen mit ihrem Namen und noch
viele mehr. Sie strickte die ganze Nacht durch. Die fertigen Schals hängte sie
über Stühle, Sessel und an die Kleiderhaken ihrer Garderobe und als all diese Stellen
besetzt waren, hängte sie die neuen Schals in den Türrahmen auf oder an die
Deckenlampen.
Am nächsten
Morgen – Bärbel hatte durchgängig gestrickt – stellte Ingeborg fest, dass sie
ihre Stricknadeln brauchte. Sie griff zum Telefon und rief ihre Enkelin an.
Bärbel schreckte aus ihrer Stricktrance auf und eilte zum Telefon. Um den Hörer
hatte sich jedoch ein Schal gewickelt, der offenbar ein Eigenleben entwickelt
hatte, und deshalb musste Bärbel kräftig ziehen. Als sie es endlich schaffte,
den Telefonhörer aus der Umklammerung des Schals zu befreien, kam sie durch den
plötzlichen Ruck ins Straucheln, verlor das Gleichgewicht und stolperte in
einen grünrotgepunkteten Schal, der es sich zwischen zwei Deckenlampen
gemütlich gemacht hatte. Bärbel fiel so ungeschickt, dass sie sich mit dem Hals
im Schal verhedderte und jetzt da hing, wie ein zum Tode verurteilter
Schwerverbrecher.
So hing sie fünf Minuten und hätte Timo nicht, als er sie Hals über Kopf
verlassen hatte, seine Zahnbürste vergessen, würde diese Geschichte wirklich
eklig enden.
Ende
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