Liebe Leserin, lieber Leser,
lange Zeit war es still auf dieser Webseite. Da aber nun aber bald – vielleicht sogar noch dieses Jahr – mein neues Buch erscheint, dachte ich mir, ich veröffentliche mal wieder etwas.
Ein guter Freund meinerseits – Mr Francis Rickenbacker – erlebte letztens eine schöne Feier. Von dieser Feier handelt die nun folgende Geschichte. Jede Woche gibt’s ein neues Kapitel. Los geht’s…

Ich erwachte von dem Dröhnen des Güterzugs, der über meinen Kopf gefahren sein musste. Jedenfalls brummte mein Schädel, als habe er Bekanntschaft mit einer alten Diesellock gemacht. Vor meinem Auge war alles rot. Weinrot und blutrot. Ich blinzelte, doch das tiefe Rot blieb. Es verschwand nicht. Es war so beharrlich, wie die Tatsache, dass ich wusste, in wessen Blut ich lag. Ein weiterer Güterzug überfuhr mich und rüttelte an meinem Verstand. Ich erinnerte mich wieder daran, wo ich war: Auf Tante Henriettas Geburtstagsfeier draußen in Brandenburg; in einem Durchgang, dessen Tür ich mit einem dieser altmodischen Schlüssel erst auf- und dann wieder zugeschlossen hatte; zu Füßen der Leiche meiner Frau, die drei fürchterliche Wunden in ihrem Bauch hatte.
Wieder dröhnte es und schlagartig wurde mir klar, dass das die alte Dusche sein musste. Gloria hatte darauf bestanden, dass ich noch einmal duschen sollte, bevor ich mich in Schale warf. Gloria würde auf nichts mehr bestehen, so viel stand fest. Ich blickte auf ihre Leiche – sie war schon ganz blass – und begann gleichzeitig zu weinen und mich zu erbrechen. Ich beugte mich zur Seite, damit ich meinen Mageninhalt nicht auf Gloria verteilte. Als nichts mehr kam, fing ich laut an zu weinen. Ich steigerte mich in meine Trauer hinein, bis ich schließlich schreiend neben meiner toten Frau auf dem Boden lag.
Wer konnte ihr das nur angetan haben? Wer konnte sie erschossen haben?
Ich nahm ihren leblosen Kopf in die Arme und küsste ihre kalte Stirn.
Draußen klopfte es an der Tür.
„Wer weint denn da so?“, fragte eine Frauenstimme.
Ich weinte einfach weiter.
„Ist alles in Ordnung?“
Ich schüttelte den Kopf. Mir war es egal, dass die Frau vor der Tür meine Reaktion nicht sehen konnte.
„Ich komme jetzt rein“, sagte die Frauenstimme.
Es scharrte an der Tür. Gloria blickte hinauf zur Decke. Ich sah in die toten Augen meiner Frau. Es scharrte weiter an der Tür.
„Sie müssten drinnen den Schlüssel abziehen. Sonst kann ich nicht zu Ihnen kommen“, sagte die Frau.
Ich erinnerte mich an den Schlüssel, den Gloria mir gegeben hatte. So einen hatte ich früher als Kind nur bei meiner Oma gesehen. Oder war es bei Onkel Ferdinand gewesen? Ich war mir nicht mehr sicher. Auf dem Boden lag ebenfalls ein Schlüssel. Das musste der Schlüssel sein, mit dem Gloria in den Durchgang gekommen war. Wie war ich noch gleich hierher gelangt? Ich erinnerte mich nicht mehr.
„Bitte ziehen Sie den Schlüssel ab“, sagte die Frauenstimme.
Ich saß noch eine Weile reglos am Boden und hielt den leblosen und jetzt vollkommen nutzlosen Kopf meiner Frau im Arm. Dann legte ich ihn behutsam auf dem Boden ab – in ihrem Blut. Ich stand auf und ging mit zittrigen Schritten zur Tür. Ich griff nach dem Schlüssel und fragte mich, wieso ich ihn nicht abgezogen hatte. Natürlich war ich nicht dazu gekommen, weil ich den leblosen Körper meiner Frau gesehen hatte. Ich drehte den Schlüssel im Schloss und zog die Tür auf. Auf der anderen Seite stand die Zimmergenossin meiner Tante.
„Geht es Ihnen gut?“, fragte Juliette.
„Nein“, sagte ich und fing wieder an zu weinen.
„Was ist denn …“
Sie brach mitten im Satz ab, da sie offensichtlich Glorias Leiche entdeckt hatte.
„O mein Gott. Ist sie … Haben Sie sie … Ist Ihre Frau etwa tot?“
„Ja, ist sie. Nein, habe ich nicht – glaube ich jedenfalls.“
„Was ist passiert?“
„Ich weiß es nicht.“
Juliette starrte an mir vorbei hinüber zu Gloria. Ich schwankte benommen hin und her. Um mich herum drehte sich jetzt alles. Mein Kreislauf brauchte scheinbar noch einige Zeit, bis er wieder in Schwung kam.
„Wir müssen die Polizei rufen“, sagte Juliette.
„Tun Sie das bitte.“
„Und für Sie einen Arzt.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Keinen Arzt. Was ich brauche, ist ein starker Kaffee.“
„Ich mache Ihnen welchen.“
Erst jetzt hatte ich die Gelegenheit, Juliette genauer zu betrachten. Sie trug nur noch einen Pyjama. Ihre langen grauen Haare fielen ihr wirr auf die Schultern. Wie spät mochte es wohl sein? Wie lange war ich ohnmächtig gewesen?
„Kommen Sie. Wir schließen hier einfach wieder ab und dann rufen wir die Polizei. Und ich koche Ihnen einen Kaffee.“
„Danke …“
„Juliette.“
„Ich weiß, wie Sie heißen.“
„Und Sie sind Oskar, nicht wahr?“
Ich nickte.
Wir gingen in den Saal, der jetzt vollkommen leer war. Ich setzte mich auf meinen Platz. Vor schier endlos langer Zeit hatte ich hier mit Gloria gesessen. Jetzt lag sie hinten im Durchgang wie ein Stück Abfall.
„Ich komme sofort wieder.“
Juliette ging nach vorne. Ich tastete meine Taschen ab. Schließlich fand ich mein Smartphone. Ich zog es heraus und sah auf die Uhr. Es war drei Uhr in der Früh. Wie lange war ich ohnmächtig gewesen?
„Die Polizei kommt sofort“, sagte Juliette, als sie wieder in den Saal kam. „Ich habe auch einen Arzt angerufen. Er wird sie untersuchen. Außerdem habe ich eine Kanne Kaffee aufgesetzt.“
Ich sagte nur: „Danke.“ Mehr brachte ich gerade nicht heraus.
„Wir sollten auf jeden Fall Henrietta über den schrecklichen Tod ihrer Frau unterrichten.“
Ich nickte langsam. Schließlich fragte ich: „Ist Ihnen eigentlich klar, dass Gloria erschossen wurde? Und haben Sie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, dass ich es gewesen sein könnte, der ihr das angetan hat? Immerhin war ich mit ihr in dem Durchgang eingeschlossen.“
„Ich bin doch nicht dumm“, sagte Juliette. „Natürlich habe ich das Blut und die Schusswunden gesehen. Doch Sie haben ja keine Waffe.“
Ich hatte zumindest keine in der Hand gehabt, als ich aufgewacht war. Aber so genau hatte ich mich in dem dunklen Durchgang nicht umgesehen.
„Wir sollten das überprüfen“, sagte ich.
„Was? Wollen Sie jetzt zur Leiche Ihrer Frau? Das würde ich lieber nicht machen. Bestimmt sind die Polizisten darüber sehr verärgert, wenn wir dort alles in Unordnung bringen.“
Bei dem Wort „Unordnung“ hätte ich beinahe gelacht. Gibt es etwas unordentlicheres als den Tod? Und doch bringt der Tod letztlich alles in Ordnung. Wir werden alle aufgereiht an der Pforte zum Jenseits – wenn es so etwas überhaupt gibt.
„Dann bleiben wir wohl doch lieber hier.“
„Ich hole den Kaffee“, sagte Juliette und verschwand.
Ich sah wieder auf mein Smartphone. Vom Hintergrund strahlte mich eine noch lebende Gloria an. Das Foto stammte von unserem letzten Urlaub in Italien. Jetzt würden keine weiteren Fotos hinzukommen – außer vielleicht irgendwelche grauenhaften Bilder, die die Polizei schießen würde.
Wer hatte das getan? Wer hatte meine Gloria umgebracht? Und warum?
Juliette kam mit dem Kaffee zurück.
„Ich habe Henrietta geweckt. Sie wird gleich nach unten kommen.“
„Wer tut sowas?“, fragte ich laut.
„Die Polizei wird es herausfinden.“
„Ihre Zuversicht möchte ich haben.“
Juliette lächelte.
„Das ist nicht mein erster Mord. Mein Mann wurde ebenfalls umgebracht.“
Ich stutzte.
„Wann war das?“
„Vor beinahe fünfundzwanzig Jahren. Wir waren in Norddeutschland im Urlaub. Es war ein herrlicher Tag. Wir lagen nur am Strand und ließen uns die Sonne auf den Bauch scheinen. Ich war nur einmal kurz weg, um mir an einem Kiosk eine Zeitung zu kaufen – meinen Roman hatte ich in einem Stück durchgelesen – und als ich wiederkam, lag er da und röchelte. Jemand hatte auf ihn eingestochen. Und das alles nur, um an die Spiegelreflexkamera zu kommen, die mein Mann mitgenommen hatte.“
„Und die Polizei hat den Täter geschnappt?“
Juliette nickte.
„Es dauerte keinen Tag. Der Mörder war ein berüchtigter Dieb. Er hat die Tat sofort gestanden. Er hatte wohl aus Panik auf meinen Mann eingestochen.“
„Was für ein sinnloser Tod“, sagte ich.
Juliette atmete hörbar aus.
„Auf jeden Fall bin ich mir sicher, dass die Polizei den Mörder Ihrer Frau fassen wird. Schließlich kann er nicht weit sein.“
„Sie meinen, er ist hier aus der Gegend?“
„Wer weiß. Vielleicht ist es sogar jemand, den Sie kennen.“
Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. Doch jetzt, wo diese Tür aufgestoßen war, flogen die Gesichter an mir vorüber. Da war Sophia. Annabelle. Der seltsame Herr in dem altmodischen Anzug. Tom und Magnus. Und ich.
Die Tür ging auf und Henrietta kam herein.
„O mein lieber Oskar, es tut mir so leid.“
Sie umarmte mich, was gut tat.
„Wo liegt sie denn?“
„Drüben im Durchgang zum Hinterhof“, sagte Juliette.
„Sieht sie arg schlimm aus?“
„Alles ist voller Blut. Sie ist schon ganz bleich.“
„Die Arme.“
Henrietta drückte mich noch einmal fest. Dann hörten wir draußen einen Wagen vorfahren.
„Das wird die Polizei sein. Oder der Arzt“, sagte Juliette und stand auf.
Wir gingen nach draußen. Auf dem Parkplatz stand ein dunkler Mercedes. Ein älterer Mann stieg gerade aus. Er zertrat eine Zigarette auf dem Boden und kam dann auf uns zu.