Letztens gab ich Lutz den Titel „Die Linie“ vor. Weil mir gerade mal langweilig war, habe ich ebenfalls eine Geschichte zu diesem Titel geschrieben. Hier ist also mein Text.
Könnt ihr sie
auch sehen? Diese feine, dünne Linie, die alles trennt? Das Leben vom Tod, die
Liebe vom Hass, Recht von Unrecht, die Ordnung vom Chaos. Ich sehe sie seit
ungefähr fünf Jahren. So genau weiß ich das nicht mehr, da ich jegliches
Zeitgefühl verloren habe. Hier unten im Keller des Krankenhauses, wo die
hoffnungslosen Fälle landen, verschwindet die Zeit. Sie zerfließt langsam
zwischen Doppelschichten und Stress und zu kurzen Wochenenden.
Ich glaube, die Linie sieht für jeden anders aus. Irgendwie scheint sie von
ihrem Betrachter abhängig zu sein. In meinen Augen hat sie einen lilafarbenen
Schimmer. Meist verläuft sie geradlinig, oder elegant geschwungen. An manchen
Tagen ist sie weit entfernt und kaum zu sehen. An anderen Tagen verläuft sie
keine zwei Meter entfernt von mir. Immer geradeaus. Immer schön zwischen den
Dingen. Hier ist alles in Ordnung, jenseits der Linie tobt ein Sturm, der alles
ins Chaos stürzt. Hier bei mir geht es all meinen Patienten gut. Drei Zimmer
weiter sterben einer Schwester Zwillinge unter den Händen weg.
Die Linie ist beständig. Nur manchmal, wenn die eine Seite versucht, in den
Bereich der anderen hineinzugreifen, kräuselt sie sich leicht, wie die sanften
Wellen an den Ufern eines Sees. Wenn Politiker oder Polizisten, die die
Schwächsten schützen sollten, sich auf die Seite der Starken schlagen und die
Schwachen unterdrücken, wenn Junge Mütter von Drogendealern erschossen werden,
wenn der Mann, der seine Frau eigentlich über alles liebt, eine Affäre mit der
Nachbarin hat.
Ich denke, dass alle Menschen dieses Kräuseln wahrnehmen und dass jeder
versucht, den richtigen Zustand wieder herzustellen, die Wogen zu glätten, die
Linie zu beruhigen. Ich habe mich schon oft gefragt, was Menschen dazu bringt,
die Linie absichtlich zu übertreten. Bis heute. Seit heute weiß ich, was mich
dazu bringen wird, all das aufzugeben, was mir wichtig – heilig – ist.
Ich stehe am Bett von Janina. Sie hat eine schlimme Operation an ihrer Lunge
hinter sich. Ihre Welt ist gerade dabei, sich wieder zu ordnen. Doch im
Nachbarzimmer liegt mein Sohn Lukas und wartet auf eine gesunde Niere. Janina
käme laut Krankenakte als Spenderin in Frage. Ich sehe noch einmal auf ihre
Akte, auf ihre geschlossenen Augen, den Überwachungsmonitor, auf dem ebenfalls
eine dünne Linie zuckt. Auf und ab. Immer im Takt ihres Herzens. Dann sehe ich
über meine Schulter. Draußen im Flur schimmert sie, die dünne lilafarbene
Linie.
Ich nehme die Spritze und injiziere Janina Luft in die Venen. Die Linie auf dem
Monitor beginnt zu zucken. Schneller, immer schneller. Die Linie hinter mir
kräuselt sich. Jetzt wogt sie vor und zurück, auf und ab, wie die Wellen eines
Ozeans. Sie kommt immer näher und näher und ich spüre, wie etwas in mir
zerreißt, als ich sie übertrete.
Ende
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