David schreibt

Have a break, write a book

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Der Maulbeerbaum – 1

Die Wochen der ernsten Texte werden fortgesetzt. Was nun (und die nächsten vier Wochen) folgt, ist eine Geschichte (der Titel stammt wie immer vom lieben Lutz), die ich geschrieben habe, weil ich mir einfach mal wieder ins Gedächtnis rufen musste, dass ich auch länge zusammenhängende Sachen schreiben kann. Vielleicht musste ich mir das auch nur beweisen, bevor ich mich an meinen neuen Roman setze (Aktueller Stand: 41829 Wörter). Wie dem auch sei. Hier ist das erste „Kapitel“ von „Der Maulbeerbaum“.

Jojakim hasste seinen Vater abgrundtief. Er hatte dafür gute Gründe, wobei der eigentliche tiefsitzende Grund, seit langem unangetastet in der Düsternis seiner Vergangenheit lag. Verborgen unter dem geladenen Revolver, den Zacharias in betrunkenem Zustand seinem Sohn an die Stirn gehalten hatte. Vergraben auch unter den Trümmern seiner Ehe mit Mariam. Fast erschlagen von dem Gewicht seiner Ängste. Tief unter all dem lag die Wurzel des Hasses und sie trank gierig seit vielen Jahren.
Jojakim war das langersehnte Einzelkind einer mittelprächtigen Ehe. Seine Eltern hatten sich vielleicht einmal vor langer Zeit geliebt, doch mittlerweile vergessen, worin ihre Liebe einst gegründet war. Jojakims Vater, Zacharias, arbeitete im Werk. Dort stellten sie Dosen her, in denen dann konservierte Nahrungsmittel aufbewahrt werden konnten. Jeden Abend kam er nach Hause und nahm seinen Sohn in die Arme. Jojakim, der damals noch keine fünf Jahre alt war, wartete meistens sehnsüchtig auf die Schritte seines Vaters, die dann durchs Treppenhaus hallten.
Doch eines Abends kam Zacharias nicht nach Hause. Susanna hatte den ganzen Tag in der Küche gestanden und die Anrichte poliert. Jetzt stand sie neben Jojakim am Fenster und sah hinaus in die Dunkelheit. Als der Vater nach über einer Stunde endlich kam, war das Essen bereits kalt und Jojakim lag im Bett. Jedoch ohne zu schlafen. Er hatte gelauscht und als er endlich die Schritte seines Vaters hörte, schob er die Decke zur Seite und setzte sich im Bett auf. Er lauschte. Draußen auf dem Flur redeten seine Eltern. Seine Mutter zischte leise, sein Vater antwortete laut. „Goldberg hatte was zu feiern. Ja und?“ Er klang ein wenig zornig. Und irgendwie war seine Stimme nicht ganz so fest, wie sonst immer. Die Stimmen verstummten und die Tür wurde geöffnet. Hell umrahmt vom Flurlicht stand Zacharias in der Tür zu Jojakims Zimmer.
„Na mein kleiner, hast du lange auf deinen Vater gewartet?“, fragte er und setzte sich auf die Bettkante. Unbeholfen streichelte er Jojakims Haare. Sein Atem roch nach Alkohol.
„Warum bist du erst so spät zuhause?“
Zacharias atmete einmal schwer durch. Süßer Alkoholgeruch schwebte durch die Luft. Nach einer langen Denkpause, die auf Jojakim beinahe so wirkte, als sei sein Vater mit offenen Augen eingeschlafen, antwortete er: „Wir hatten was zu feiern. Ein Kollege von mir ist Papa geworden.“
Jojakim dachte darüber nach. Schließlich fragte er: „Habt ihr auch gefeiert, als du Papa geworden bist?“
„Das haben wir. Das haben wir.“ Zacharias Stimme klang mittlerweile so müde und verwaschen, dass Jojakim nur noch „Das ham ir“ verstand. „Jetzt mach die Augen zu Kleiner.“
Zacharias küsste seinen Sohn auf die Stirn und deckte ihn dann zu.
Jojakim lag noch lange wach und lauschte, ob er hören könnte, wie seine Eltern sich stritten. Doch von jenseits der Tür kamen keine Geräusche mehr.
Am nächsten Morgen schien zwischen seinen Eltern wieder alles beim Alten zu sein. Sein Vater gab seiner Frau wieder einen Kuss, beide tranken ihren Kaffee und Jojakim hatte die Szene vom Abend schon fast wieder vergessen. Doch ein kleiner Teil blieb ihm im Gedächtnis hängen. In Gedanken hörte er immer wieder das Zischen seiner Mutter und die verwaschenen Sätze seines Vaters.
In der darauffolgenden Woche kam sein Vater wieder jeden Abend pünktlich nach Hause. Jojakim lief ihm immer entgegen und der Vater nahm ihn in die Arme. Das bewährte Theaterstück ging in eine neue Saison. Doch schon in der zweiten Woche verspätete Zacharias sich abermals. Wieder ging Jojakim allein ins Bett. Wieder blieb er wach, bis er die Schritte hörte. Wieder dieses Zischen. Und wieder kam der Vater an sein Bett und streichelte ihm den Kopf.
„Habt ihr wieder gefeiert?“, fragte Jojakim.
Zacharias wusste nicht sofort, was sein Sohn meinte. Schließlich nickte er. „Oh ja. Mendelson hat eine Erbschaft gemacht. Das mussten wir feiern.“
Er sprach wieder mit verwaschener Stimme und eine deutliche Fahne umwehte ihn.
„Hast du auch schon einmal eine Erbschaft gemacht?“
„Wie? Oh, nein. Deine Großeltern leben doch noch. Eine Erbschaft kann man nur machen, wenn jemand stirbt.“ Er streichelte seinem Sohn erneut durchs Haar. „Jetzt ist aber Schluss mit der Fragerei mein Großer. Mach jetzt die Augen zu.“
Jojakim tat, wie man ihn hieß. Doch er schlief nicht ein. Er dachte darüber nach, wie es wohl wäre, wenn seine Großeltern stürben und sein Vater etwas erbte. Würden sie dann auch feiern, wo sie doch eigentlich um die Verstorbenen trauern müssten? Über diesen Gedanken schlief Jojakim schließlich doch ein, und als er am nächsten Tag in die Küche kam, war wieder alles beim Alten.
Fast.
Zacharias gab Susanna keinen Kuss, als er sich seinen Kaffee einschenkte. Alles weitere verlief wie gewohnt, doch dieser Moment, als Zacharias sich mit seiner Tasse Kaffee an den Tisch setzte, ohne zuvor…
Die Tage drauf kehrten alle wieder zum gewohnten Muster zurück, doch auf eine seltsame Art und Weise haftete dieses kleine Ereignis an der Realität. Und es kam noch viel schlimmer. Es zog eine giftige Schleimspur durch Jojakims Leben. Immerzu dachte er daran, dass sich seine Eltern nicht geküsst hatten. Und das alles nur, weil Mendelson eine Erbschaft gemacht hatte.
Die Feieranlässe wurden immer zahlreicher. Die Abstände zwischen den Abenden, an denen Zacharias verspätet nach Hause kam, wurden immer kleiner. Und der Schleimklumpen, der den Alltag beschmutzte, wurde immer größer und giftiger, und er schleimte immer größer werdende Bereiche des Lebens voll.
Aus dem Zischen der Mutter wurde irgendwann ein Schreien, dann ein Weinen und zuletzt ein Schweigen. Zacharias kam trotz allem jeden Abend in Jojakims Zimmer und tätschelte ihm den Kopf. Anschließend unterhielten sie sich meist, ehe der Vater ging und Jojakim sich leise in den Schlaf weinte. Er hatte gelernt, stumm zu weinen.
Dieses Theater dauerte an, bis Jojakim sich eines Tages dazu entschloss, sich schlafend zu stellen. Irgendwann öffnete sein Vater nur noch kurz die Tür, um nach ihm zu sehen, bis er auch das ließ.
Dann entdeckte Jojakim eines Tages die Waffe.
Es war ein ziemlich alter Revolver mit Rostflecken und Kratzern im matt glänzenden Metall. Der Sechsschüsser lag in der Schreibtischschublade seines Vaters, in der Jojakim nach einem Blatt Papier gesucht hatte.
Neugierig nahm er sie in die Hand. Im echten Leben hatte er noch nie eine Waffe gesehen, sondern nur im Fernseher. Der Revolver lag schwer in seiner kleinen Kinderhand. Jojakim hob ihn hoch und zielte auf die alte Wanduhr. Plötzlich ging die Tür auf und seine Mutter kam herein. Vor Schreck ließ Jojakim die Waffe fallen. Mit einem dumpfen Schlag fiel sie zu Boden.
„Großer Gott, Jojakim, was machst du denn da?“
Susanna kam hereingestürmt und hob die Waffe auf.
„Die darfst du niemals wieder in die Hand nehmen, hörst du?“, sagte sie streng.
„Ja Mama“, gab Jojakim kleinlaut als Antwort. „Sagst du mir, wieso Papa eine Waffe hat?“
„Was?“ Susanna sah ihren Sohn verwirrt an. „Ja, er hat sie von seinem Vater geschenkt bekommen. Der hat sie aus dem Krieg.“
Susanna legte hektisch die Waffe zurück in die Schublade und schloss sie mit dem Schlüssel ab. Dann steckte sie den Schlüssel in ihre Hosentasche.
„Du musst wissen, dass Waffen sehr gefährlich sein können. Vor allem, wenn man…“
Sie kam nicht weiter, denn Zacharias kam zur Tür rein.
„Was ist denn hier los?“, fragte er, tätschelte Jojakims Haar – was dieser schon seit mehreren Monaten nicht mehr schön fand – und sah seine Frau an.
„Jojakim hat Arons Pistole gefunden“, antwortete Susanna.
„Es ist ein Revolver, das weißt du, oder?“
„Ja Schatz. Ich habe ihn wieder zurück in die Schublade gelegt und abgeschlossen. Wir müssen den Schlüssel verstecken.“
„Warum? Damit Jojakim ihn nicht findet? Was soll denn schon geschehen? Glaubst du, er schießt sich mit dem alten Ding die Rübe weg?“ Zacharias lachte herablassend und streckte auffordernd die Hand aus. „Gib mir den Schlüssel. Ich will dem Kleinen die Waffe zeigen. Er darf keine Angst davor haben.“

Weihnachten ohne dich

Heute gibt es einmal einen etwas ernsteren Text (genaugenommen, läute ich hiermit die Wochen der ernsten Texte ein). Weihnachten steht vor der Tür und alle Familien treffen sich, essen gemeinsam und überreichen einander Geschenke. Doch leider gibt es auch Familien, in denen das nicht mehr möglich ist. Diesen Familien widme ich den folgenden Text.

„Wo zum Henker ist der große Weihnachtsstern?“, hast du immer gefragt. Gefunden hast du ihn nie. Und deshalb haben wir jedes Jahr einen neuen gebastelt. Nach dem Fest wanderte der dann in die Tonne. Du konntest die Hoffnung einfach nicht aufgeben, im nächsten Jahr den Stern deiner Kindheit auf dem Dachboden zwischen all den anderen Kisten zu finden.
Jetzt stehe ich auf den Zehenspitzen und versuche, mit ausgestreckten Armen den neuen Stern am oberen Ende der Tanne zu befestigen. Ich werde ihn nach dem Fest wieder wegwerfen und nächstes Jahr nach dem echten Weihnachtsstern suchen.
Alles scheint wie immer. Doch der Schein trügt, denn obwohl dein Geschenk neben all den anderen unterm Baum liegt, ist seit Wochen nichts mehr wie immer. Früher war es so einfach, für dich ein Geschenk auszusuchen. Jedes Jahr kam eine neue Puppe hinzu, später Bücher oder schicke Schuhe. Als du langsam erwachsen wurdest, hatten dein Vater und ich immer größere Probleme, das passende Geschenk zu finden. Was sollte man einer Tochter schenken, die dank ihres Jobs bereits alles besaß?
Dieses Jahr liegt ein neuer roter Bademantel für dich unter dem Baum. Rot, wie dein Haar. Rot, wie dein Lieblingskleid. Rot, wie dein Auto.
In meiner Brust wächst wieder ein Kloß an, wie in der Nacht, in der du nicht nachhause gekommen bist. Ich habe das Gefühl, mein Herz würde platzen. Nicht vor Freude, sondern vor Schmerz. Dieser nichtendende Schmerz.
Meine Glieder werden wieder taub. Genauso, wie in der Nacht, als du es nicht mehr geschafft hast, deine Schuhe in den Flur zu stellen, als Zeichen, dass du sicher angekommen bist. Als du es nicht geschafft hast, deinen Corsa sicher ans Ziel zu lenken. Wie schon unendliche Male zuvor, die immer gleiche Straße, das immer gleiche Auto.
„Wahrscheinlich ein Sekundenschlaf“, meinte die Polizei. Nach einer schrecklichen Sekunde schläfst du jetzt für immer. Und wir, dein Vater und ich, wir feiern dieses Jahr Weihnachten ohne dich. Das erste von vielen.

Ende

Bärbel und der Kontrollverlust

Ein weiser Mann behauptete einst, es täte gut, seine Figuren die Kontrolle verlieren zu lassen. Ein hochnäsiger Mann entgegnete hingegen, ein solcher Kontrollverlust sei stets nur ein „scheinbarer Kontrollverlust“, da der Autor ja als Gott seiner Welt stehts die Zügel in der Hand halte. Wie dem auch sei. Bärbel hat definitiv die Kontrolle über ihr Leben verloren und ich hatte definitiv keine Zeit, die Geschichte zu überarbeiten. Ich finde sie trotzdem gut. Nicht hervorragend, aber gut. Das muss reichen.

Bärbel erhängte sich vor knapp fünf Minuten. Sie tat dies nicht etwa, weil sie ihres Lebens überdrüssig geworden wäre. Nein, Schuld waren ihre Großmutter (im doppelten Sinne) und in gewisser Weise der Umstand, dass Bärbel vor geraumer Zeit die Kontrolle über ihr Leben verloren hatte. Aber der Reihe nach.
Alles fing damit an, dass Timo eines Morgens aufwachte und meinte: „Ich will nicht mehr mit dir zusammenleben, du ekelst mich an!“ Sprachs, kochte sich noch einen letzten Kaffee in der kleinen Küche und verließ für immer Bärbels Leben.
Bärbel war wie vor den Kopf gestoßen. Sie rief Tanja an und Jenny und Barbara, doch niemand hatte Zeit für sie. Laura teilte ihr sogar mit, sie wolle nichts mehr mit ihr zu tun haben. Und so blieb Bärbel nichts anderes übrig, als vor lauter Zorn das gesamte Mobiliar der Küche zu Kleinholz zu verarbeiten.
Gerade als sie mit der Spüle beschäftigt war (das verdammte Ding war überaus widerstandsfähig), kam Bärbels Großmutter Ingeborg zur Tür herein.
„Aber Schätzchen, wie sieht es denn hier aus? Wurde bei euch eingebrochen?“
Bärbel, die bei all dem Aufstand keine Träne vergossen hatte, schüttelte mit dem Kopf. „Das war ich. Weil ich wütend bin.“
„Aber auf wen bist du denn wütend?“, fragte die Oma.
„Auf alle. Und am meisten auf Timo. Der Drecksack hat mich heute Morgen verlassen. Einfach so. Er hat gemeint, ich sei zu eklig!“ Bärbel redete sich jetzt in Rage. Sie schrie beinahe. „ZU EKLIG! STELL DIR DAS DOCH MAL VOR!“
Ingeborg, die noch nie viel von Timo gehalten hatte, versuchte ihre Enkelin zu beruhigen. „Jetzt komm erst mal runter. Weißt du was, ich koch uns mal einen Tee. Der beruhigt die Nerven.“
Ingeborg nahm den Wasserkocher, der unter den Trümmern des Hängeschranks lag, und füllte ihn mit Wasser. Es dauerte einen Moment, bis das Wasser heißt genug war. Während sie wartete, räume Ingeborg das Schlachtfeld auf. Ganz mechanisch, so wie sie es immer getan hatte, wenn sie irgendetwas in Unordnung vorgefunden hatte.
Mit ihren Tees gingen sie nach nebenan ins Wohnzimmer, das Bärbel sich für eine mittägliche Ausrasterrunde aufgespart hatte. Sie setzten sich auf das kleine Sofa und Ingeborg zauberte aus ihrer Handtasche ein Garn Wolle und zwei Stricknadeln und begann zu stricken. Dabei plapperte sie drauf los.
„Weißt du, vielleicht kannst du diese Situation auch als einen Neuanfang betrachten. Ich mochte den Knaben ja nie so wirklich. Und jemand wie du, der findet doch bestimmt schnell einen neuen. Wie heißt es doch so schön: Es gibt für jeden Topf einen Deckel.“
Bärbel sagte zu all dem nicht, sondern starrte nur fasziniert auf die schnell hin und her huschenden Stricknadeln und den darunter entstehenden Schal.
„Darf ich das auch mal probieren?“, fragte sie.
Ingeborg, die zunächst nicht verstand, was ihre Enkelin meinte, sagte nur: „Gerne. Pass aber auf, dass du die Maschen nicht verlierst.“
Es war einer dieser Augenblicke, in denen man feststellte, dass es Dinge gab, die man nie verlernte, wie etwa das Fahrradfahren. Ganz offensichtlich gehörte Stricken auch dazu. Bärbel fing erst vorsichtig und in einem Tempo, das man wahrhaftig als Schneckentempo bezeichnen konnte, an, die einzelnen Maschen zu knüpfen. Dann wurden ihre Bewegungen immer schneller, bis sie beinahe das Tempo ihrer Großmutter erreichte.
Sie strickte und strickte und strickte und vergaß so fast, dass ihre Großmutter zu Besuch war. Erst, als sie innehalten musste, weil ihr nun doch eine der Maschen von der Nadel gefallen war, wurde ihr klar, dass sie die letzten zwei Minuten gestrickt hatte, ohne ein Wort zu sagen, ohne zornig zu sein, ohne an Timo zu denken.
„Kann ich das behalten?“, fragte sie und ihre Großmutter nickte.
„Ich geh dann jetzt mal. Wenn du noch einmal jemanden zum Reden brauchst, melde dich bitte bei mir.“
Doch Bärbel hörte schon nicht mehr zu. Sie war wieder ins Stricken vertieft.

Am Nachmittag war die mitgebrachte Wolle der Großmutter aufgebraucht. Deshalb ging Bärbel in den örtlichen Handarbeitsladen und kaufte sich einen riesigen Berg an Wolle.
Wieder zu Hause angekommen, strickte sie wie wild drauf los. Sie versuchte sich an einem Topflappen, einem Pullover, Socken, Legwarmern und dergleichen, stellte jedoch schnell fest, dass sie am besten Schals stricken konnte. Und so strickte sie einen Schal nach dem nächsten. Breite Schals, lange, kurze, Rundschals, welche mit Fransen, gestreifte, einen mit ihrem Namen und noch viele mehr. Sie strickte die ganze Nacht durch. Die fertigen Schals hängte sie über Stühle, Sessel und an die Kleiderhaken ihrer Garderobe und als all diese Stellen besetzt waren, hängte sie die neuen Schals in den Türrahmen auf oder an die Deckenlampen.

Am nächsten Morgen – Bärbel hatte durchgängig gestrickt – stellte Ingeborg fest, dass sie ihre Stricknadeln brauchte. Sie griff zum Telefon und rief ihre Enkelin an. Bärbel schreckte aus ihrer Stricktrance auf und eilte zum Telefon. Um den Hörer hatte sich jedoch ein Schal gewickelt, der offenbar ein Eigenleben entwickelt hatte, und deshalb musste Bärbel kräftig ziehen. Als sie es endlich schaffte, den Telefonhörer aus der Umklammerung des Schals zu befreien, kam sie durch den plötzlichen Ruck ins Straucheln, verlor das Gleichgewicht und stolperte in einen grünrotgepunkteten Schal, der es sich zwischen zwei Deckenlampen gemütlich gemacht hatte. Bärbel fiel so ungeschickt, dass sie sich mit dem Hals im Schal verhedderte und jetzt da hing, wie ein zum Tode verurteilter Schwerverbrecher.
So hing sie fünf Minuten und hätte Timo nicht, als er sie Hals über Kopf verlassen hatte, seine Zahnbürste vergessen, würde diese Geschichte wirklich eklig enden.

Ende

Spiel mir das Lied vom Brot

Vorletzte Woche war Wortwitzwoche. Heraus kam dieser wundervolle Text. Ach ja: Der Titel stammt von Lutz.

Karl lag der Käse noch schwer im Magen. Er hätte die Finger davon lassen sollen, aber wenn er eines aus der Vergangenheit gelernt hatte, dann dass er nichts aus der Vergangenheit lernte. Und so hatte er sich mal wieder den Bauch mit Bergkäse vollgestopft und lag jetzt mit üblen Bauchschmerzen in der Ecke der Stube und wünschte sich nichts mehr als einen Chirurgen, der ihm den Käse operativ entfernte.
Karl gegenüber saß Luis und knapperte an einem Stück Speck. Er war so fett, dass er kaum noch durch die schmalen Ritzen in der Wand passte. Wäre er nicht so behände, er wäre Piet, dem ollen Kater schon mehrfach zum Opfer gefallen.
„Ich will nicht mehr leben“, stöhnte Karl. Er rechnete nicht mit einer Antwort. Die einzige Äußerung, die von Luis zu erwarten war, wäre ein Rülpser gewesen. Umso erstaunter war er, als er dennoch eine Antwort bekam.
„Sag doch sowas nicht. Du weißt nie, wie schnell sich ein solcher Wunsch erfüllt.“
Die stimme kam von der Tür – einem gefährlichen Areal, in dem sich nur die mutigsten aufhielten. Karl drehte sich langsam um. Sein Magen rebellierte bei jeder Bewegung. Er hatte sich die Stimme nicht eingebildet. Dort an der Tür stand tatsächlich jemand. Es war Hank, den alle schon für tot gehalten hatten, da er vor drei Tagen verschwunden war.
„Hank, bist du es?“, fragte Karl. „Du lebst?“
„Auferstanden von den Toten, wie der olle Jesus.“
Hank durchquerte den Raum und setzte sich neben Karl auf den Boden.
„Du siehst aber gar nicht gut aus, mein Freund. Hast du wieder mal zu viel am Käse genascht?“
„Bergkäse“, stöhnte Karl. Mehr als ein Stöhnen brachte er nicht heraus. „Der gottverdammte Bergkäse ist schuld.“
„Nein“, widersprach Hank, „du bist schuld. Du allein. Du lernst es eben nie. Und man sollte nie mehr essen, als man vertragen kann. Sieh dir Luis an.“ Er deutete auf Luis, der mittlerweile den Schlaf des Überfressenen schlief. „Der kennt kein Maß. Willst du so enden, wie er? Dick und rund und glücklich?“
„Ich wäre schon gerne glücklich, aber eben ohne diese Bauchschmerzen.“
Karl fühlte, wie sich ein großer kantiger Brocken Käse seinen Weg aus dem Magen nach oben bahnte. Wenn er jetzt auch noch kotzen musste, könnte er sich auch gleich erschießen lassen.
„Glück wird überbewertet. Momentanes Glück jedenfalls. Stell dir nur vor, du bist jetzt total glücklich, aber im nächsten Moment tot. Was bringt dir dein Glück dann noch?“ Hank sah Karl jetzt tief in die Augen. „Ich denke, man ist im Großen und Ganzen glücklicher, wenn man lange lebt und dafür jeden Tag nur ein bisschen glücklich ist.“
„Das klingt schon irgendwie logisch“, sagte Karl, „doch im Moment würde ich alles dafür geben, wenn diese Bauchschmerzen aufhörten. Wirklich alles. Ich würde mein Leben dafür riskieren.“
„Wirklich? Würdest du wirklich dein Leben dafür riskieren?“, fragte Hank und senkte seine Stimme. „Ich weiß nämlich, wo es die Lösung für dein Problem gibt. Aber dort ist es verdammt gefährlich.“ Er sprach jetzt noch leiser, so dass Karl große Mühe hatte, ihn zu verstehen. „Ich war nämlich gar nicht tot, verstehst du? Ich war nur nebenan. In der Todeszone. Und was soll ich sagen. Dort ist es himmlisch. Geradezu paradiesisch.“
Karl konnte nicht glauben, was sein Gegenüber ihm da erzählte.
„Du warst in der Todeszone? Wie lange? Wie sieht es da aus? Ist es dort wirklich so gefährlich?“, sprudelte es aus ihm heraus.
„Scht. Bist du wohl leise? Wenn der Fette mitkriegt, dass ich dort war, ist es vorbei mit meinem Geheimnis.“
„Welches Geheimnis?“, fragte Karl.
„Das wüsstest du wohl gerne“, antwortete Hank. Er machte eine Pause und endlich redete er weiter. „Also schön, aber du musst versprechen, es niemandem zu sagen.“
Karl nickte. Dann sagte er schnell: „Ich schwöre, ich werde es niemandem erzählen.“
Hank holte noch einmal tief Luft, dann erzählte er alles.
„Alles, was du über die Todeszone weißt, ist falsch. Es gibt dort keine Gefahren. Keine Fallen, keine Monster, nichts von alledem. Stattdessen ist es dort einfach himmlisch. Überall gibt es Essen und Trinken. In großen Mengen. Soviel könnte nicht einmal der fette Luis verputzen.“
Karl kam aus dem Staunen nicht mehr raus.
„Und das Beste ist das Brot. Es gibt unendlich viel Brot. Das schmeckt viel besser, als der alte vergammelte Käse und der schimmlige Speck, den man hier zwischen den Ritzen finden kann. Herrliches, duftendes Brot.“
Karl hatte seine Bauchschmerzen vergessen. Plötzlich hatte er Hunger. Er hatte Lust auf Brot.
„Führst du mich dahin? Zeigst du mir, wo es das Brot gibt?“, fragte er.
Hank schüttelte den Kopf. „Ich muss mich ausruhen von meiner langen Reise. Aber ich kann dir den Weg verraten.“
„Oh ja, das wäre super!“, rief Karl und verstummte sofort. Der dicke Luis hatte einen Laut von sich gegeben. Er durfte nichts von dem Essen in der Todeszone mitbekommen, sonst …
„Du gehst durch die Tür und direkt danach musst du dich links halten. Immer links an der Wand entlang. Am Ende des Raumes gibt es eine zweite Tür. Wenn du Glück hast, steht sie offen. Wenn nicht, musst du dich verstecken und abwarten, bis jemand sie öffnet. Hinter dieser Tür ist der Lagerraum. Dort ist all das Brot und das Obst und das Fleisch.“
Karl lief das Wasser im Mund zusammen. Seine Bauchschmerzen waren auf magische Art und Weise wie weggeblasen.
„Ich muss sofort dort hin. Ich muss, ich muss, ich muss.“
Hank lachte. „Aber lass mir was übrig.“ Dann wurde er wieder ernst. „Und zu niemandem ein Wort. Haben wir uns verstanden?“
Karl nickte nur noch, dann lief er auf die Todeszone zu.
Hank legte sich in eine bequeme Position und schloss die Augen. Sein letzter Gedanke, bevor er in tiefen Schlaf abtauchte, war: „Eigentlich ist es schade um ihn. Er war ein so netter.“

Ende

Die Linie

Letztens gab ich Lutz den Titel „Die Linie“ vor. Weil mir gerade mal langweilig war, habe ich ebenfalls eine Geschichte zu diesem Titel geschrieben. Hier ist also mein Text.

Könnt ihr sie auch sehen? Diese feine, dünne Linie, die alles trennt? Das Leben vom Tod, die Liebe vom Hass, Recht von Unrecht, die Ordnung vom Chaos. Ich sehe sie seit ungefähr fünf Jahren. So genau weiß ich das nicht mehr, da ich jegliches Zeitgefühl verloren habe. Hier unten im Keller des Krankenhauses, wo die hoffnungslosen Fälle landen, verschwindet die Zeit. Sie zerfließt langsam zwischen Doppelschichten und Stress und zu kurzen Wochenenden.
Ich glaube, die Linie sieht für jeden anders aus. Irgendwie scheint sie von ihrem Betrachter abhängig zu sein. In meinen Augen hat sie einen lilafarbenen Schimmer. Meist verläuft sie geradlinig, oder elegant geschwungen. An manchen Tagen ist sie weit entfernt und kaum zu sehen. An anderen Tagen verläuft sie keine zwei Meter entfernt von mir. Immer geradeaus. Immer schön zwischen den Dingen. Hier ist alles in Ordnung, jenseits der Linie tobt ein Sturm, der alles ins Chaos stürzt. Hier bei mir geht es all meinen Patienten gut. Drei Zimmer weiter sterben einer Schwester Zwillinge unter den Händen weg.
Die Linie ist beständig. Nur manchmal, wenn die eine Seite versucht, in den Bereich der anderen hineinzugreifen, kräuselt sie sich leicht, wie die sanften Wellen an den Ufern eines Sees. Wenn Politiker oder Polizisten, die die Schwächsten schützen sollten, sich auf die Seite der Starken schlagen und die Schwachen unterdrücken, wenn Junge Mütter von Drogendealern erschossen werden, wenn der Mann, der seine Frau eigentlich über alles liebt, eine Affäre mit der Nachbarin hat.
Ich denke, dass alle Menschen dieses Kräuseln wahrnehmen und dass jeder versucht, den richtigen Zustand wieder herzustellen, die Wogen zu glätten, die Linie zu beruhigen. Ich habe mich schon oft gefragt, was Menschen dazu bringt, die Linie absichtlich zu übertreten. Bis heute. Seit heute weiß ich, was mich dazu bringen wird, all das aufzugeben, was mir wichtig – heilig – ist.
Ich stehe am Bett von Janina. Sie hat eine schlimme Operation an ihrer Lunge hinter sich. Ihre Welt ist gerade dabei, sich wieder zu ordnen. Doch im Nachbarzimmer liegt mein Sohn Lukas und wartet auf eine gesunde Niere. Janina käme laut Krankenakte als Spenderin in Frage. Ich sehe noch einmal auf ihre Akte, auf ihre geschlossenen Augen, den Überwachungsmonitor, auf dem ebenfalls eine dünne Linie zuckt. Auf und ab. Immer im Takt ihres Herzens. Dann sehe ich über meine Schulter. Draußen im Flur schimmert sie, die dünne lilafarbene Linie.
Ich nehme die Spritze und injiziere Janina Luft in die Venen. Die Linie auf dem Monitor beginnt zu zucken. Schneller, immer schneller. Die Linie hinter mir kräuselt sich. Jetzt wogt sie vor und zurück, auf und ab, wie die Wellen eines Ozeans. Sie kommt immer näher und näher und ich spüre, wie etwas in mir zerreißt, als ich sie übertrete.

Ende

Was länge währt, wird endlich gut

Es tut gut, wenn man die Rückmeldung bekommt, eine Geschichte hätte einem Leser gut getan. Die folgende Geschichte ist eine solche (möglicherweise ist es die einzige meiner Geschichten, über die jemals so etwas gesagt wurde). Der Titel stammt wie schon zuletzt vom Lutz.

„Wieso tun Menschen Gutes?“, fragte Maria in ihrer beider Schweigen hinein und Josef runzelte die Stirn.
„Was?“
Mehr kam nicht. Josef nippte an seinem Bier. Seine Zigarette war mittlerweile im Aschenbecher zusammengeschrumpft.
„Ich meine, wieso tun Menschen anderen Menschen Gutes?“, fragte Maria erneut. Ihr Bier war bereits leer. Sie gab Sophie, die heute hinter dem Tresen stand, ein Zeichen.
„Wieso tun Menschen überhaupt etwas?“, fragte Josef und zündete sich eine neue Zigarette an. „Wenn es nach mir ginge, könnten wir ruhig den ganzen Tag, jeder schön für sich, in unserer jeweiligen Wohnung vor uns hin versumpfen.“
„Jetzt hör auf, mich zu verarschen“, entrüstete sich Maria. „Ich weiß auch nicht, wo der Gedanke auf einmal herkam.“
Josef trank sein Bier aus und winkte ebenfalls zu Sophie, die bereits ein neues für Maria gezapft hatte.
„Okay, dann denken wir mal für einen kurzen Moment über deine hochphilosophische Frage nach.“
Er tat so, als müsste er angestrengt grübeln. Dazu kratzte er sich mit der Hand, die jetzt eine neue Zigarette hielt, am Haaransatz. Weiße Asche regnete leise auf seine Schultern.
„Wer sagt denn überhaupt, dass das so ist?“ Josef schien jetzt Gefallen daran gefunden zu haben, mit Maria über was anderes als die letzte Folge von „Berlin Tag und Nacht“ zu reden. „Wer bestimmt denn überhaupt, was gut ist und was nicht?“ Er zog an seiner Zigarette und Maria wollte schon antworten, doch Josef ließ sie nicht. „Was ich als gut ansehe, muss Sophie noch lange nicht gut finden. Wenn ich zum Beispiel Peter einen Schnaps ausgeben will, weil ich ja ein so guter Mensch bin, dann wird Sophie sich mit Sicherheit weigern, weil sie weiß, wie viele Peter schon intus hat und wie nah er an einer weiteren Alkoholvergiftung mit Krankenhausaufenthalt ist.“
Josef schwieg jetzt und sah Maria auffordernd an. Wie ein kleines Kind, das von seinem Vater hören möchte, wie hübsch das neuste Bild geworden ist, das es mit der Tante im Kindergarten gemalt hat. Maria schwieg ebenfalls. Sie sah ihrem Bierschaum beim Zerfallen zu. Als fast kein Schaum mehr da war, trank sie einen großen Schluck. Schließlich drehte sie sich um und sagte: „Es gibt aber doch Sachen, die sind immer gut. Wenn ich zum Beispiel jemandem mein Parkticket schenke, weil ich nicht so lange parken musste. Dann habe ich doch etwas Gutes getan.“ Sie fischte einen Moment nach dem Gedanken, der ihr im Kopf herumschwirrte. „Wieso? Warum tue ich sowas? Es hat für mich absolut keinen Nutzen.“
„Hm“, machte Josef. Und „Aha.“ Schließlich brachte er doch noch einen ganzen Satz heraus. „Glaubst du an Karma?“
„Wie bitte?“
„Ich mein ja nur. Es gibt Leute, die daran glauben, dass man so behandelt wird, wie man die anderen behandelt. Entweder jetzt, oder in einem nächsten Leben.“
Maria schüttelte den Kopf.
„Ne, an so einen Scheiß glaub ich nicht. Wenn’s vorbei ist, ist’s vorbei.“
„Das schon“, pflichtete Josef ihr bei, „aber glaubst du nicht manchmal, dass sich irgendwer – das Schicksal oder Gott oder das Universum – merkt, was du tust und dir das irgendwie in Rechnung stellt?“
Maria schüttelte den Kopf. „Nach allem, was ich weiß, sind wir hier verdammt allein. Kein Gott, kein Schicksal und keine scheiß Kräfte des Universums.“
Sophie brachte zwei neue Biere. Sie stellte sie ab und machte die Striche auf die Deckel.
„Entschuldigung, ich wollte euch bestimmt nicht belauschen, aber darf ich sagen, was meine Großmutter mir immer zu dem Thema gesagt hat?“
„Klar!“, sagte Josef, der sein neues Bier bereits zu einem Drittel geleert hatte. „Nur raus damit!“
„Sie hat immer gesagt: ‚Was lange währt, wird endlich gut.‘“
„Toll. Und was soll mir das jetzt sagen?“, blaffte Maria.
„Es kann doch so sein, wie Joe gesagt hat. Man tut gute Dinge im Leben, weil man darauf hofft, dass einem Andere auch mal gute Dinge tun. Und manchmal hat man vielleicht eine Durststrecke. So ähnlich wie ein ganzer Abend ohne Trinkgeld. Und trotzdem ist man nur am Lächeln und ist höflich zu allen Gästen.“
Marie wurde ein bisschen beschämt, da sie noch nie Trinkgeld gegeben hatte.
„Aber dann kommt irgendwann der Gast, der sein Bier mit einem Zehner bezahlt und nur sagt ‚Stimmt so.‘ Und dann weiß man, wieso man den ganzen Abend über so freundlich war.“
„Sag ich ja“, sagte Josef und trank sein Bier aus.

Ende

All der Erfolg, der Neid und die verdammte Glückseligkeit

Mal wieder hat mit der liebe Lutz einen Titel vorgegeben. Mal wieder ist eine bescheuerte Geschichte dabei rausgekommen. Wie immer bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich mich immer an die korrekte Zeitform gehalten habe. Mir gefällt sie dennoch.

Silvia spürt regelrecht, wie sich kleine rote Flecke in ihrem Gesicht bilden. Die Wärme, die sich auf ihren Wangen ausbreitet, das leichte Jucken an ihren Ohren und nicht zuletzt ihr krampfhafter Biss sind untrügliche Zeichen dafür, dass es mal wieder soweit ist. Und an all dem ist niemand Geringeres Schuld als ihre Kollegin Monika, die wie jeden gottverdammten Montagmorgen mit einem breiten Grinsen in der Visage, laut „GUTEN MORGEN!“ schreiend, das gemeinsame Büro betritt.
„Ah, ist das ein herrlicher Morgen. So ein tolles Wetter. Und diese klare Luft. Herrlich!“, sagt Monika und Silvia fragt sich, wie jedes Mal, ob sie mit dem Stuhl, ihrem Computer oder der Wand spricht. Jedenfalls nicht mit ihr. Silvie hängt die permanente Glückseligkeit ihrer Kollegin schon lange mächtig zum Hals raus.
„Nun, wir haben ja Gott sei Dank eine Garage. Du musstest ja bestimmt heute Morgen schon kratzen, nicht wahr?“
Die ganze verdammte letzte Woche, aber das müsste sie Monika aus dem Lummerland bestimmt nicht auf die Nase binden.
„Ich war eben noch beim Bäcker und habe uns ein paar Croissants besorgt. Die können wir nachher verputzen, wenn wir die Übergabe machen“, sagt Monika und Silvia findet es langsam, aber sicher merkwürdig, dass ihre Zornesflecken noch gänzlich unentdeckt geblieben sind. Jetzt treten auch noch ihre Adern hervor. Sie kommt sich vor, wie der alte Schnellkochtopf ihrer Großmutter, der einmal beim Marmeladeeinkochen geplatzt war. Das war die größte und zugleich leckerste Sauerei ihres damals noch jungen Lebens gewesen. War es nicht oft so, dass schreckliche Situationen auch etwas Schönes hatten? Es bleibt weiterhin abzuwarten, welche guten Seiten die Zusammenarbeit mit Monika hat.
„Wie wäre es, wenn ich dir gleich alles zeige, dann kann ich dir auch gleich von unserem tollen Urlaub erzählen. Ich freue mich ja schon so sehr.“
Mal davon abgesehen, dass Silvia all die Hochglanzwerbebilder von Monikas Südseehotel bestimmt schon dreimal gesehen hat, war es da wieder. Dieses eine Wort. All diese „uns“ und „wir“ und „gemeinsam“. Dann soll sie sich doch mit ihrem Schatzilein auf irgendeinem Südseestrand verbuddeln und an dem verdammten Sand ersticken. Viel Sand würde sie bei ihrer Bikinifigur ja ohnehin nicht benötigen.
„Es wird bestimmt so wahnsinnig schön.“
Silvia, die soeben beschlossen hat, dass es jetzt endlich reicht, nimmt einen der Croissants. Natürlich sind es mal wieder die Ökovollkorndinger, die kein Mensch isst, außer dieser immerfröhliche Hungerhaken und sein Schatzilein. Silvia isst ihn trotzdem.
Dann zieht sie Monika in den Papierkorb, rechtsklickt ihn und wählt „Papierkorb leeren“. Wie von Geisterhand verschwindet die Zornesröte aus ihrem Gesicht und ihre Adern schwellen ab.
Die Tür geht auf und ihr Chef kommt reingestürmt.
„Wo ist denn Frau Zabel?“
„In der Südsee. Mit ihrem Schatzilein.“

Ende

Der Apache

Zu der folgenden Geschichte muss ich zwei Anmerkungen machen: Der Titel wurde mir von Lutz vorgegeben. Außerdem ist der erste Satz der Geschichte ganz eindeutig eine Hommage an Karl Mays „Winnetou Teil 1“. Viel Spaß beim Lesen.

Immer fällt mir, wenn ich ans Basteln denke, die Marmelade ein. Wie das sein kann, fragen Sie sich? Es liegt an der Art, wie ich bastle und wie ich Marmelade koche. Denn bei beidem gehe ich besonders gewissenhaft vor. Anders als meine Frau, die sich, wenn sie Marmelade kocht, mit einem Pürierstab durch die roten Beeren pflügt als gäbe es kein Morgen, kümmere ich mich um jede einzelne Beere, als hätte ich nur diese eine auf dem Feld gesammelt. Mit voller Hingabe zerdrücke ich sie langsam mit dem Löffel, bis schließlich ihre dünne Haut aufplatzt und der rote Saft hervorquillt. Dann greife ich zur nächsten Beere. Natürlich schaffe ich bei solch einer Vorgehensweise höchstens ein Glas pro Tag, doch schmeckt die Marmelade, dank all der Mühen, tausendfach besser.
Nach derselben Methode gehe ich vor, wenn ich bastle. Was hatte ich eine Freude beim Zusammensetzen all der Helikopter, Panzer und Flugzeugträger, die jetzt aufgereiht auf dem gläsernen Regal stehen. Unbezahlbar ist die Ruhe, die ich – unten in meinem Kellerraum – empfinde, wenn ich ein neues Model zusammensetze. Stück für Stück. Jeden Tag klebe ich nur ein einziges Bauteil an, so sehr habe ich mich diszipliniert. Doch dieses eine Bauteil muss perfekt sitzen, weshalb ich mich besonders stark konzentrieren muss.
Heute stehe ich – leicht vorübergebeugt – vor dem Apache AH 64 und halte das vorletzte Bauteil – die Heckrotoren – in der Hand. Bald schon würde er sich zu seinen Brüdern – dem Comanche, dem Eurofighter und all den anderen – gesellen. Nur noch zwei Teile sind anzubringen.
Vorsichtig bestreiche ich die Enden der Rotorblätter mit dem teuren Klebstoff. Das Teil muss perfekt sitzen. Perfekt. Mit ruhigen Fingern setze ich es exakt an seine Position und halte es kurz fest, bis der Kleber getrocknet ist, als plötzlich das Telefon klingelt und mich aus meiner konzentrierten Anspannung reißt.
Ich schrecke hoch und stoße mit dem Kopf an die Deckenlampe. Ich strauchle, drohe vornüber zu fallen und stütze mich irritiert mit der Hand auf dem Tisch ab.
Es knackst laut, als ich den Apache mit meinem Gewicht zertrümmere. Ich spüre einen Stich in meinem Herzen, als hätte ein Unbekannter mir von hinten ein Fleischermesser durch die Brust gerammt. Mein Hirn will explodieren, meine Seele zerreißt.
Schwer atmend richte ich mich auf und betrachte, was ich angerichtet habe: Der Hubschrauber – und damit die Arbeit von mehr als zwei Monaten – ist hinüber. Und das alles nur wegen eines dämlichen Anrufs, um den sich ohnehin in wenigen Augenblicken der Anrufbeantworter kümmern würde. Durch einen Tränenvorhang sehe ich zu dem letzten Bauteil. Die Rotorblätter, die ich morgen angebracht hätte, liegen neben der Pappschachtel mit dem Bild des Apaches bereit. Mit zittrigen Fingern greife ich nach ihnen, breche sie in der Mitte durch und werfe sie in den Papierkorb. Der Apache folgt ihnen.
Morgen werde ich – einen Tag früher als geplant – mit dem Bau des Leopardpanzers beginnen. Bis dahin, sollte ich mich etwas sammeln, um die nötige Konzentration aufbringen zu können. Vielleicht gönne ich mir ein Marmeladenbrot. Der rote Brei wird mir guttun. Oh, dieser schöne rote Brei.

Ende

Gastbeitrag „Körzdörfers Kratzen“

Der gute Lutz war so freundlich und hat mir eine Geschichte geschenkt. Hier ist sie.

Körzdörfers Leben kratzte ihn. Und wer ist schon ganz zufrieden, wenn ihn andauernd etwas kratzt? Richtig: Niemand. Aber Körzdörfer war jetzt auch nicht der Mensch, der es sich zur Aufgabe machte, sein Leben irgendwie annehmlicher zu gestalten. Körzdörfer war Naturwissenschaftler durch und durch. Der Versuchsaufbau durfte nicht aufgrund subjektiver Befindlichkeiten verändert werden. Vielleicht war Thales allem Runden abgeneigt gewesen. Was wäre gewesen, hätte er nie seinen berühmten Satz gesagt? Richtig: Die Geometrie steckte immer noch in den Kinderschuhen. Nein, es führte zu nichts, sich von seinen Gefühlsduseleien leiten zu lassen.

Einmal hatte Körzdörfer es dennoch versucht und ein paar Verse geschrieben. Schmierige Verse, von Pathos triefend. Sie hatten von Liebe, dem Mond und der Eulerschen Zahl gehandelt. Körzdörfer war stolz auf sie gewesen und zum ersten Mal hatte er das Kratzen fast nicht mehr gespürt. Er hatte sie einem Freund gezeigt, der sie lobte. Er hatte sie Kollegen vorgelesen, die ihn bewunderten. Schließlich gab er sie seinem Vater. Dieser lächelte und sprach vom Wetter. Es war sicher kein ungerührtes vom Wetter Sprechen, aber es war eben auch nicht mehr.

An diesem Abend konnte Körzdörfer wieder nicht einschlafen, so sehr kratzte es ihn. Und das Kratzen war längst nicht mehr nur äußerlich, nein, sein Hals kratzte auch.

Körzdörfer unternahm einen letzten verzweifelten Versuch mit dem Kratzen klarzukommen. Er untersuchte es wissenschaftlich. Er erhob weltweit Daten, sammelte sie und wertete sie aus. Er erforschte das Kratzen von innen. Zerlegte es in all seine Bestandteile. Bald schon stieß Körzdörfer auf scheinbar unüberwindliche Grenzen des wissenschaftlich Aussagbaren. Aber er ließ sich nicht aufhalten, sondern erweiterte unaufhörlich das ihn umgebende Team. Sie waren multiprofessionell, überkonfessionell und manche von ihnen drogenabhängig oder schizophren. Aber all das tat der wissenschaftlichen Erforschung des Kratzens keinen Abbruch, sondern ganz im Gegenteil: Körzdörfer und sein Team eilten von Erkenntnisgewinn zu Erkenntnisgewinn. Und längst waren die Forschungsergebnisse nicht mehr auf das schmale Gebiet des Kratzens beschränkt. Die Atomphysik, die naturwissenschaftliche Erforschung des Stolperns und der Kreisligafußball im Schweizer Kanton Appenzell-Innerrhoden profitierten ungemein von allem, was Körzdörfer und sein Team an Erkenntnissen zutage förderten.

Körzdörfer starb in hohem Alter zufrieden, glücklich und ausgesöhnt mit seinem Kratzen. Er hatte sein Leben der Wissenschaft gegeben, vielen Menschen geholfen und niemandem geschadet. Ihm verdanken wir die beiden Sätze übers Kratzen, die auch nach heutigem Wissensstand noch nichts an Aktualität eingebüßt haben. So bleibt mir, als einem der dem zweiten Satz übers Kratzen vielleicht nicht weniger als sein Leben verdankt, in aller Schlichtheit nur eines zu sagen: Danke, Körzdörfer!

Deep shit #1

Eigentlich sollte es auf david-schreibt.de um Texte gehen, die für jedermann bestimmt sind. Die aus gewissen Launen heraus geschrieben wurden. Möglichst unpersönlich.

Uneigentlich führe ich noch einen zweiten Blog, ganz altmodisch mit Tinte auf Papier. Manche würden hierzu Tagebuch sagen, aber das trifft es nicht, da ich kein Mensch bin, der sonderlich reflektiert durchs Leben wandelt (und wozu sonst sollte ein Tagebuch dienen, als zur Reflexion über das am Tage erlebte?).

Nun denn. Die Eröffnung ist länger, als der eigentliche Beitrag. Und das, wo ich doch sonst nicht viele Worte verliere. Hier ist mein genialer Gedanke des Tages:

„Wir begrenzen uns, weil wir unser Leben nicht mehr im Griff haben und weil uns das Leben, das uns im Griff hat, nicht gefällt.“

Macht was draus.

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